Problemstellung der Forschung des Sonderforschungsbereichs 700
Ausgangspunkt des SFB 700 ist die Feststellung, dass die große Mehrheit der Weltbevölkerung in Räumen begrenzter Staatlichkeit lebt, in denen die staatliche Fähigkeit zur (Durch-)Setzung von Regeln und/oder zur Aufrechterhaltung eines legitimen Gewaltmonopols zumindest teilweise eingeschränkt ist. Aber auch hier werden häufig effektiv Governance-Leistungen erbracht. Das gilt sowohl im Weltmaßstab als auch in historischer Perspektive. Der SFB 700 fragt deshalb: Wie und unter welchen Bedingungen werden Governance-Leistungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit erbracht, und welche Probleme entstehen dabei?
In der zweiten Förderperiode hat der SFB 700 vier zentrale Ergebnisse erarbeitet. Erstens finden wir empirisch sowohl im zeitgenössischen als auch im historischen Vergleich die folgenden Governance-Konstellationen vor: hierarchisches ebenso wie nicht-hierarchisches Regieren „ohne Staat“; Delegation von Governance durch die jeweilige Zentralregierung an externe wie interne/lokale Akteure; vielfältige nicht-hierarchische Verhandlungssysteme, an denen unterschiedliche Akteure beteiligt sind. Zweitens können wir keinen systematischen Zusammenhang zwischen dem Grad an (Rest-)Staatlichkeit und der Effektivität dieser Governance- Konstellationen in Räumen begrenzter Staatlichkeit erkennen. Effektivität und Legitimität von Governance variieren auch nicht nach Politikfeldern. Das bedeutet aber nicht, dass Staat und Staatlichkeit in den von uns untersuchten Räumen keine Rolle spielen. Drittens zeigen unsere Forschungen, dass (empirische) Legitimität und Effektivität von Governance eng miteinander zusammenhängen. Wenn Governance-Konstellationen als (il‑)legitim wahrgenommen werden, führt das zu Aneignungs- und Abwehrprozessen, die wiederum die Effektivität von Governance befördern oder behindern. Aus normativer Perspektive ist viertens zwischen instrumentellen und intrinsischen Rechtfertigungen des Regierens zu unterscheiden. Instrumentelle Rechtfertigungen können Governance-Konstellationen Legitimität verleihen, wenn Konsens über die Ziele des Regierens besteht. Allerdings sind sie auf den eng umgrenzten Bereich des Schutzes grundlegender Menschenrechte und sonstiger unstrittiger Güter beschränkt. Für die Erbringung von Governance-Leistungen, die über diesen Bereich hinausgehen, bedarf es partizipativer Prozesse der Problem- und Zieldefinition.
In der dritten Förderperiode des SFB 700 nehmen wir uns vor, aus unseren empirischen Erkenntnissen eine untermauerte Theorie des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit abzuleiten. Wir vermuten, dass vier Gruppen von Erfolgsbedingungen effektive Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit erklären können:
(1) Institutionelle Arrangements: Relevant sind der Institutionalisierungsgrad der Governance, die Anpassungsfähigkeit an lokale Kontexte, die Interaktion formal gesatzter Regeln und informeller Praktiken sowie die Einbettung in Institutionen der Meta-Governance, die unterschiedliche Governance-Akteure koordinieren und Kollisionsregime bereitstellen.
(2) (Rest-)Staatlichkeit und funktionale Äquivalente: Funktionale Äquivalente zum staatlichen „Schatten der Hierarchie“ sind u. a. die hierarchische Steuerung durch externe Akteure, der „Schatten der Anarchie“ (die drohende Abwesenheit politischer Ordnung) sowie antizipierte Reputationsgewinne nichtstaatlicher Akteure.
(3) (Empirische) Legitimität: Legitimität und Effektivität von Governance können sowohl einen Tugend- als auch einen Teufelskreis bilden. Die Legitimität von Governance in den Augen der Betroffenen beeinflusst deren Handlungsstrategien entscheidend. Die damit verbundenen Aneignungs-, Abwehr- und Übersetzungsprozesse beeinflussen wiederum die Effektivität von Governance maßgeblich.
(4) Soziale Integration und Vertrauen: Soziales Vertrauen ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass Akteure Probleme kollektiven Handelns effektiv lösen können. Wechselseitiges Vertrauen versetzt Akteure in die Lage, Governance-Leistungen selbstständig zu erbringen. Wir fragen, wie sich personalisiertes Vertrauen auf Governance auswirkt und wie es gelingen kann, generalisiertes Vertrauen über lokale Gemeinschaften hinaus zu erzeugen.
Unser zweiter Beitrag zu einer Theorie von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit besteht darin zu erklären, wie die empirische Legitimität von Governance als zentrale Erfolgsbedingung von Governance zustande kommt. Aus welchen normativen Gründen befürworten die Betroffenen Governance? Dabei konzentrieren wir uns auf folgende Quellen von Legitimität: Partizipation und prozedurale Fairness (Input- und Throughput-Legitimität); die antizipierte Effektivität von Governance (Output-Legitimität); besondere Eigenschaften der Governance-Akteure (Wissen, moralische und religiöse Kompetenz sowie ethnisierte Identitätszuschreibungen); sowie die Lokalisierung und Übersetzung externer Normen.
In der dritten Förderperiode geht es uns schließlich um die Konsequenzen von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, um die normative Beurteilung und die Formulierung von Politikempfehlungen. Uns beschäftigen die Auswirkungen komplexer Governance-Arrangements auf Staat, Staatlichkeit und das internationale System. Wir fragen nach den Möglichkeiten, verschiedene Governance-Akteure zu koordinieren und zwischen unterschiedlichen normativen Ansprüchen zu vermitteln (Meta-Governance). Und nicht zuletzt untersuchen wir auch die drängenden Fragen nach der Anerkennungswürdigkeit und sozialen Gerechtigkeit von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit.