Projektbereich B - Herrschaft
Die Regelung von Herrschaftsbeziehungen gehört zu den fundamentalen Aufgaben politischer Ordnungen. Der Sachbereich „Herrschaft“ ist den anderen Politikbereichen vorgelagert, insofern es hier nicht um die Erbringung von Gemeinschaftsgütern wie Sicherheit und Wohlfahrt geht, sondern um die politischen und rechtlichen Institutionen selbst, die diese Governance-Leistungen erst bereitstellen sollen. Die Teilprojekte des Projektbereichs B analysieren diese institutionellen Voraussetzungen der „neuen“ Governance-Formen, aber auch deren Folgen für Herrschaft und Recht einschließlich der Erfolgsbedingungen für normativ anspruchsvolles „gutes“ Regieren. Dabei geht es um Fragestellungen, die aus dem Umstand resultieren, dass die „neuen“ Governance-Formen Modi politischen Handelns sind, dem die typischen Merkmale befehlender Herrschaft fehlen, die aber dennoch keineswegs ohne Macht wirksam sind. Die Teilprojekte untersuchen, in welcher Weise und in welchen Gestaltungen unter Bedingungen abwesender oder defizitärer Staatlichkeit Ordnungsleistungen ohne oder im Schatten der Hierarchie erbracht werden.
Die rechtliche Dimension von Governance-Leistungen in fragilen Staaten steht im Mittelpunkt des Teilprojekts B2 von Tanja A. Börzel „Gutes Regieren“ ohne den Schatten der Hierarchie? Korruptionsbekämpfung im südlichen Kaukasus im Rahmen der EU-Nachbarschaftspolitik. Das Teilprojekt B2 Börzel nimmt die Perspektive „von oben nach unten“ ein: Das Projekt untersucht die Frage, mit welchen Instrumenten und in welchen Formen die von der EU mit Ländern mit begrenzter Staatlichkeit vereinbarten Vorgaben über Good Governance – hier: Regeln zur Korruptionsbekämpfung – durchgesetzt werden. In diesen Beziehungen kooperiert ein Gebilde, das Staatlichkeit bereits transzendiert hat (die EU), mit (weitgehend noch) protostaatlichen Gebilden. Die traditionellen Handlungsformen konsolidierter Staatlichkeit – hierarchische im staatlichen Binnenraum und koordinationsrechtliche in der Beziehung zu anderen Staaten – stehen nicht zur Verfügung bzw. sind nicht problemadäquat. Die Untersuchung verspricht wichtige Erkenntnisse über die Eigentümlichkeiten von Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit.
Die beiden Teilprojekte B3 Lehmkuhl und B4 Conrad ergänzen den Projektbereich „Herrschaft“ um die für den SFB zentrale historische Dimension. Während B3 Lehmkuhl das Problem kolonialer Governance im Rahmen des gleichzeitig stattfindenden Formationsprozesses moderner Staatlichkeit in Europa und Nordamerikas in den Blick nimmt, analysiert B4 Conrad die klassische koloniale Variante zur Zeit des europäischen Hochimperialismus. Die rechtshistorische Fragestellung von B1 Preuß wird hier durch die Konzentration auf kolonialgeschichtliche Themen wieder aufgenommen und weitergeführt. Auch die Problematik des „guten Regierens“ (B2 Börzel) wird hier durch die historische Perspektive vervollständigt.
Das Teilprojekt B3 von Ursula Lehmkuhl Colonial Governance und Mikrotechniken der Macht: Englische und französische Kolonialbesitzungen in Nordamerika, 1680-1760 adressiert Formen kolonialer Herrschaft in der frühen Neuzeit. Es werden die unter dem Begriff der Colonial Governance etikettierten Governance-Leistungen in den nordamerikanischen Kolonien Frankreichs und Englands untersucht und miteinander verglichen. Es handelt sich dabei um Governance unter Bedingungen von Protostaatlichkeit bei gleichzeitigem Vorhandensein zivilgesellschaftlicher Strukturen innerhalb der Siedlergemeinschaften. In dem Teilprojekt stehen daher jene kolonialen, für die gegenwärtige Governance-Forschung bedeutsamen Formen der Machtausübung im Mittelpunkt, die bei weitgehender Abwesenheit der unmittelbar kontrollierenden Einflussnahme eines staatlichen Zentrums (des Kolonialstaates) auf dem komplexen Zusammenwirken von lokalen Akteuren und deren Einbettung in soziale Alltagspraktiken beruhten.
Das Wechselspiel zwischen kolonialem Staat und lokalen Akteuren ist auch Gegenstand des Teilprojekts B4 von Sebastian Conrad Wissen und Herrschaft: Scientific colonialism in den deutschen und japanischen Kolonien, 1884-1937. Das Projekt widmet sich der Erforschung der Quellen, des Status und der Bedeutung des Wissens, das für die Ordnung des kolonialen Verhältnisses eigentümlich ist und das die Kolonialmacht zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft generiert, sammelt und anwendet. Dieses Wissen ist nicht das zweckfreie Wissen autonomer wissenschaftlicher Institutionen, sondern das der Kolonialverwaltungen. Es ist Quelle eines scientific colonialism, dessen Erforschung den Zusammenhang von Macht, Herrschaft und Wissen rekonstruiert und für ein Verständnis heutiger Formen von Ordnung fruchtbar gemacht werden kann, die ohne die Allmacht des Staates und ihrer allkompetenten Hierarchie auskommen muss.
Zu möglichen Entwicklungsperspektiven des Projektbereichs B „Herrschaft“ gehört eine stärkere Konzentration auf die Demokratisierungs- und Legitimitätsproblematik in der zweiten Phase des SFB. In diesem Zusammenhang hat Prof. Dr. Wolfgang Merkel (Wissenschaftszentrum Berlin) bereits jetzt sein Interesse an einer Beteiligung in der zweiten SFB-Phase bekundet.