Aneignung
= tätige Erweiterung des eigenen Machtpotentials in transformatorischen Prozessen der Vereinnahmung und der Einflussnahme.
Erläuterungen:
Aneignung: Im Allgemeinen bezeichnet der Aneignungsbegriff die tätige Erweiterung der eigenen Möglichkeiten. Diese Definition geht von einem kreativen →Aneignungssubjekt aus, von dem aus die Welt in das →Eigene und das Fremde unterschieden werden kann. Die Aneignungsperspektive fokussiert dann auf das Sich-zu-eigen-Machen des Fremden durch das Aneignungssubjekt, auf die eigenständige Erweiterung seiner Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen. Dabei ist die Perspektive offen für sämtliche immateriellen und materiellen →Aneignungsgegenstände. Im SFB 700 interessieren uns solche Aneignungsprozesse, in denen der Zugewinn an Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten eine Veränderung des relativen Machtpotentials nach sich zieht (→Macht s.o. unter „Räume begrenzter Staatlichkeit“). In unserem Forschungsfeld ist Aneignung vor allem dann zu beobachten, wenn internationale und lokale Governance-Vorstellungen aufeinander treffen.
Eigen/Fremd: Der Aneignungsbegriff eröffnet eine akteurszentrierte Forschungsperspektive auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Dem Einflussbereich eines →Aneignungssubjekts steht die von ihm (noch) nicht beherrschte oder zumindest tätig-intentional beeinflusste Umwelt gegenüber. Von dieser Spannung ausgehend, meint Aneignung das Sich-zu-eigen-Machen des Fremden (z.B. durch (modifizierendes) Lernen, Verstehen, In-Besitz-Nehmen oder Besetzen). In der Regel sind diese Prozesse mit einem Zugewinn an Machtpotentialen für das →Aneignungssubjekt verbunden.
Aneignungssubjekte: Aneignung setzt die Identifizierung eines Aneignungssubjekts voraus, von dem aus potentielle →Aneignungsgegenstände (das noch Fremde) bestimmt werden können. Als Subjekte der politischen Aneignung interessieren nicht nur einzelne politische Eliten (Mikroebene), sondern auch soziale Gruppen und Organisationen (Mesoebene). Ebenso können Diskurse (Makroebene) als Subjekte der Aneignung untersucht werden (wenn sich etwa die kapitalistische Wirtschaftsform oder die Menschenrechte in der Perspektive der longue durée durchsetzen). Politische Aneignung lässt sich also auf der Mikro-, Meso- und Makroebene untersuchen – und wir gehen davon aus, dass Aneignungsprozesse in der Regel wechselseitig und auf mehreren Ebenen gleichzeitig stattfinden (wenn z.B. die instrumentelle Aneignung der Menschenrechtsrhetorik durch lokale NGOs auf der Makroebene als Teilprozess der „Diffusion“ des Menschenrechtsdiskurses erscheint).
Aneignungsgegenstände: Die Gegenstände der Aneignung sind vielfältig. Das Spektrum reicht von finanziellen Ressourcen über Land bis hin zu sozialen Werten und kollektivem Wissen. Selbst komplexe Transfer-Prozesse oder Institutionen können Gegenstände der Aneignung sein. Ausgehend von den Aneignungsgegenständen erscheint eine Differenzierung in drei Typen der Aneignung sinnvoll: (1) Aneignung von Praktiken oder Kompetenzen als tätiges Lernen; (2) Aneignung von Bedeutungen als aktives (Bedeutungs )Verstehen; (3) Aneignung von materiellen oder finanziellen Ressourcen als Inbesitznahme oder Enteignung. Die politische Aneignung komplexer Gegenstände, z.B. politischer Institutionen, ist unvollständig und zieht Entfremdungseffekte nach sich, wenn nicht tätiges (und modifizierendes) Lernen und Verstehen die Inbesitznahme begleitet. Teil eines gelungenen Aneignungsprozesses ist immer auch die Transformation des Gegenstandes, die sich als Einbettung, localization oder, allgemeiner, als Anpassung an einen spezifischen kulturellen Kontext beschreiben lässt.