Gouvernementalität
= Denksystem in Bezug auf die Art und Weise des Regierens; Regierungsrationalität, die bestimmte Aktivitäten des Regierens sowohl für Regierende als auch für Regierte denk- und praktizierbar macht.
Erläuterungen:
Regierung: Der Begriff der Regierung meint in der Gouvernementalitätsperspektive nicht die Führung eines Staates, sondern die Führung und Selbstführung sämtlicher Individuen und Kollektive einer Gesellschaft. Es geht dabei um die Institutionen und Praktiken, durch die Menschen gelenkt werden (z.B. Verwaltung, Erziehung), um Herrschaftstechniken wie auch um Subjektivierungsweisen. Es geht nicht zuletzt auch um den politischen Charakter von Wissen, wenn gefragt wird: Welche Wissensarten, welche „Rationalitäten“ liegen einer bestimmten Form des Regierens zugrunde (→Regierungsrationalität)?
Regierungsrationalität: Gouvernementalität ist ein in Raum und Zeit veränderliches Denksystem, das bestimmt, auf welche Weise menschliches Verhalten in der Gesellschaft gesteuert wird. Es geht hier um eine spezifische Rationalität des Regierens, die bestimmte Ziele anvisiert, die sich bestimmter Regierungsinstrumente bedient und die sich auf bestimmte wissenschaftliche Disziplinen stützt. Mit anderen Worten: Die Ziele, Instrumente und Wahrheiten des Regierens ergeben einen rationalen Zusammenhang, der sich in Raum und Zeit wandelt und der die Menschen steuert. Michel Foucault, auf den das Gouvernementalitätskonzept zurückgeht, unterscheidet historisch-empirisch drei Regierungsrationalitäten des neuzeitlichen Europas: Staatsraison, Liberalismus (auch als Gouvernementalität im engeren Sinne bezeichnet) und Neoliberalismus.
Mit dem Fokus auf diskursive Strukturen, die politisches Handeln steuern, richtet der Gouvernementalitätsansatz sein Hauptaugenmerk auf den Kontext von Governance. Der Governance-Begriff nimmt hingegen eine akteursorientierte Perspektive ein, bei der die Handlungsmöglichkeiten politischer Akteure (innerhalb von Diskursen) im Vordergrund stehen. In Hinblick auf dieses Erkenntnisinteresse der Governance-Forschung zeichnet der Gouvernementalitätsansatz ein vergleichsweise starres Bild: Akteure werden gesteuert, Dominanzstrukturen sind übermächtig. Aus der Gouvernementalitätsperspektive unterstützt die Governance-Forschung globale Machtasymmetrien, indem sie die Möglichkeiten westlicher Politik-Transfers auslotet. So ist das Verhältnis zwischen beiden Ansätzen gespannt, aufgrund einer Strukturorientierung einerseits und einer Akteursorientierung andererseits. Dennoch kann die Governance-Forschung von der Gouvernementalitätsperspektive profitieren. Diese Perspektive weist auf Grenzen dessen, „was gesagt werden kann“, bzw. auf Prozesse der Wirklichkeits- und Problemkonstruktion im Governance-Prozess hin, und sie stellt die Frage nach überindividuellen Machtwirkungen (power of discourse). Dies kann sowohl dem „Problemlösungsbias“ als auch der potentiellen Machtblindheit der Governance-Forschung entgegenwirken. Die Methode der Genealogie, die auf eine konsequente Historisierung gegenwärtiger „Wahrheiten“ zielt, befruchtet zudem eine kritische Hinterfragung der Übertragbarkeit des Governance-Konzeptes auf nicht-westliche Räume.