Ich erforsche seit 2003 in Afghanistan gesellschaftliche Wandlungsprozesse unter Rahmenbedingungen, die von einer komplexen internationalen Intervention und einem Staatsgründungsprozess geprägt sind. Zunächst habe ich lokale Konfliktdynamiken in Nord- und Ostafghanistan analysiert und diese als heuristischen Schlüssel zur Erforschung der Dynamik gesellschaftlicher Ordnung genutzt.
Ab 2006 haben wir als Forscherteam des SFB 700, zusammen mit von uns ausgebildeten Kollegen in Afghanistan, ein Methodenbündel aus qualitativen und quantitativen Instrumenten zusammengestellt. Dies soll helfen die Wirkung der internationalen Intervention auf die Lokalgesellschaft systematisch über einen Beobachtungszeitraum von 12 Jahren zu erfassen. Kernstück dieses Vorgehens sind Umfragen, Profile und Interviews, die ich alle zwei Jahre zusammen mit den afghanischen Kollegen in mittlerweile 27 Distrikten Nordafghanistans durchführe. Die letzte Felderhebung dieser an den SFB 700 gebundenen Langzeitwirkungsforschung wurde von uns, dem Teilprojekt C9, im Frühjahr 2015 umgesetzt. Umsetzung und vorläufige Ergebnisse sollen in diesem Beitrag kurz umrissen werden.
Der Feldzugang ist seit der ersten Erhebungswelle 2007, als ich selbst noch alle unsere damals 80 Untersuchungsdörfer besuchen konnte, erheblich schwieriger geworden – nicht nur für mich, sondern auch für die afghanischen Teamkollegen. Im ländlichen Afghanistan muss der Zugang zu Dörfern in der Regel immer zunächst mit Dorfvertretern besprochen und manchmal auch lange verhandelt werden, alleine um als Fremder nicht auf unverschleierte Frauen im Dorf zu stoßen. Seit der Taliban-geleiteten Intervention in strategisch wichtigen Distrikten des Nordens nach 2007 ist die lokale Sicherheitslage zusehends unübersichtlicher geworden.
Unsere erste Umfrage 2007 hatte ergeben, dass die Taliban kein Einflussfaktor waren, dass der (negative oder positive) Einfluss von den ehemals mächtigen informellen Lokalkommandeuren der alten Anti-Taliban-Allianz massiv zurückgegangen war und dass sowohl die ISAF Präsenz (internationales Militär) als auch die im Aufbau befindlichen afghanischen Sicherheitskräfte von der überwältigenden Mehrheit der Befragten als positiv gesehen wurden.
Seitdem hat sich vieles verändert. Den Taliban gelang es 2009-2010 und wieder nach 2012 nicht nur staatliche Präsenz aus Teildistrikten zurückzudrängen, sondern in einigen Gebieten auch dauerhaft eigene Governance-Leistungen, wie z.B. islamische Rechtsprechung und –durchsetzung, jenseits der bloßen Gewaltkontrolle anzubieten. Die ISAF Präsenz wurde zwischen 2010 und 2012 noch einmal verdoppelt, um die Taliban zurückzudrängen und die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte zu forcieren. Das geschah allerdings vor dem Hintergrund der von den USA erklärten Absicht, bis Ende 2014 weitgehend abgezogen zu sein. Die staatlichen Sicherheitskräfte und die subnationale Verwaltung übernahmen bis 2014 tatsächlich schrittweise die volle Sicherheits- und Regierungsverantwortung in allen Distrikten, waren damit aber durch den anhaltenden Druck der Taliban oft überfordert. Deshalb wurden verstärkt regierungsnahe lokale Milizen gegründet, die den Staat darin unterstützen sollten, Territorien gegen die Aufständischen zu verteidigen. Dieses Milizprogramm war zunächst weitgehend informell und wurde dann vermehrt als Afghan Local Police (ALP) der Distriktpolizei unterstellt. Das Programm hatte in jedem Fall den Effekt, dass die alten sogenannten Jihadi-Lokalkommandeure des Bürgerkrieges und der Anti-Taliban-Allianz der 1990er Jahre wieder stark an Einfluss gewannen.
Diese Trends spiegeln sich auch in unseren Umfragen und Interviews von 2007 bis 2015 wieder, allerdings nicht immer so, wie von uns zunächst erwartet wurde:
Für die ISAF brechen die Umfragewerte zu einer positiven Sicherheitswirkung massiv ein, gleichzeitig steigt die Angst vor den Internationalen Kräften stark an. Obwohl die Nationalen Sicherheitskräfte zunächst zunehmend mit ISAF operierten und später die Verantwortung für Kampfeinsätze übernahmen, bleibt das Vertrauen in eine positive Sicherheitswirkung für sie kontinuierlich bestehen und Angstwerte steigen von sehr niedrigem Niveau nur leicht an. Dies zeigt, dass die Transition der Sicherheitsverantwortung eine Entscheidung war, die auch von vielen Afghanen begrüßt wurde. Allerdings heißt eine positive Einschätzung noch nicht, dass die Bevölkerung den eigenen Kräften auch zutraut, auf sich alleine gestellt effektiv für Sicherheit sorgen zu können. Hier sind die Menschen pessimistischer. Nur ein Drittel der Befragten glaubt daran und weist in qualitativen Interviews darauf hin, dass dies von einem politischen Friedensprozess und der weiteren Unterstützung durch das Ausland abhängt.
Milizen zeigen, von einigen Ausnahmen abgesehen, eine gute subjektive Sicherheitswirkung nur dann, wenn sie formalisiert und dem Staat zugeordnet sind. In einigen Distrikten haben Milizen aber auch zu der Gewaltwillkür geführt, die wir vermehrt erwartet hatten und die den Taliban mancherorts erst Einfallstore eröffnet haben.
Die Taliban überzeugen als Governance-Akteure die Lokalbevölkerung nicht. Das gilt auch für die Kernbereiche, in denen sie gegen den Staat antreten, nämlich in Sicherheit und Rechtsprechung. Hier bleibt aber zu vermerken, dass die staatliche Justiz in Sachen Rechtsprechung nach wie vor in den Augen der Bevölkerung schlicht versagt.
In Sachen „Output-Legitimität“ ist der Staat in den letzten Jahren lokal weiter unter Druck geraten, wobei sich jedoch Entwicklungsmaßnahmen deutlich positiv auf die dem Staat zugeschriebene Fähigkeit zur Problemlösung auswirkten. Die Sichtbarkeit der staatlichen Administration ist in den letzten Jahren stetig gestiegen.
Diese Ergebnisse von C9 reflektieren die Situation vor dem temporären Fall von Kunduz im September 2015, der für viele Afghanen ein Schock war und die Zuversicht in die Fähigkeit des Staates und die Bereitschaft der Taliban, eine Befriedung voranzubringen, getrübt hat.
Die Trends der vergangenen Jahre zeigen aber, dass der (eigene) Staat gerade in gewaltoffenen Räumen begrenzter Staatlichkeit weiterhin als Versprechen auf Befriedung attraktiv ist und möglichen lokalen Funktionsäquivalenten wie den Taliban oder dem Kommandeurssystem für die Governance-Leistung „Sicherheit“ vorgezogen wird. Gleichzeitig werden weniger kritische Governance-Probleme wenn möglich über lokale gesellschaftliche Institutionen gelöst.