Im beschaulichen Cambridge zwischen Wissenschaft und Praxis, Humanität und Pragmatimus
News vom 24.08.2016
Im altehrwürdigen Cambridge, eine gute Stunde nördlich von London, befindet sich eines der Zentren der Völkerrechtswissenschaft: das Lauterpacht Centre for International Law. 1983 von Sir Elihu Lauterpacht zu Ehren seines Vaters Sir Hersch Lauterpacht gegründet, möchte das Institut einen akademischen Ort schaffen, der die Völkerrechtspraxis rezipiert und selbst prägt. Unser Teilprojekt C8 – Legitimität und Normsetzung im Humanitären Völkerrecht am SFB 700 beschäftigt sich mit Legitimität und Normsetzung im humanitären Völkerrecht und untersucht die internationalen Rechtsetzungsprozesse empirisch und theoretisch-normativ. Da bot ein Aufenthalt von Januar bis März 2016 die einmalige Gelegenheit, den Austausch mit anderen Wissenschaftler/innen zu suchen.
Das humanitäre Völkerrecht wurde auf den Prämissen zwischenstaatlichen Rechts und zwischenstaatlicher Kriege entwickelt. Beide Grundannahmen scheinen heute nicht mehr gegeben: Nichtstaatliche Gewaltakteure prägen die bewaffneten Konflikte unserer Zeit und eine Vielzahl von nichtstaatlichen Akteuren – seien es die bewaffneten Gruppen selbst oder Nichtregierungsorganisationen – nehmen auf informellen Wegen an Rechtsentwicklungen Teil. Kann das geltende Völkerrecht passende Antworten geben? Nachdem sich unser Teilprojekt eingehend mit der Rolle nichtstaatlicher Gewaltakteure und den Möglichkeiten, sie direkt beispielsweise durch Selbstverpflichtungserklärungen in die Normsetzungsprozesse einzubinden, beschäftigt hat, untersuchen wir nun, wie die rechtswissenschaftliche Methode mit relevanter Praxis umgehen kann und dies bereits Anwendung findet.
Das Lauterpacht Centre bot während meines zehnwöchigen Aufenthalts das Forum, das es sich auf die Fahnen geschrieben hat: Einen internationalen Ort, um mit Wissenschaftler/innen aus aller Welt ins Gespräch zu kommen und über ihre und die eigenen Herangehensweisen zu diskutieren. Fast schon legendär sind unter Völkerrechtler/innen die täglichen Kaffeepausen, in denen die Institutsmitglieder und Gäste sich zum freien Gedankenaustausch treffen. Die ersten Wochen des Jahres waren nicht nur für mich aufregend, sondern für das gesamte Institut, denn mit Eyal Benvenisti nahm der neue Direktor seine Arbeit auf. Es bleibt abzuwarten, inwieweit er mit seinem progressiven Ansatz zur global governance das Centre nachhaltig prägen kann.
Das Lauterpacht Centre zeichnet sich durch seinen Praxisbezug aus. Dies zeigt sich nicht zuletzt an einem der beiden Gebäude des Centres: Das Bahrein House wurde dem Institut einst von Bahrein gespendet – dem Vernehmen nach als Dank für eine erfolgreiche anwaltliche Vertretung durch den damaligen Institutsdirektor in einem Fall vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Katar. Für unser Teilprojekt war insbesondere der enge Kontakt des Centres zum Roten Kreuz von Interesse. Zu meiner Zeit war zum einen ein ehemaliger Mitarbeiter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) zu Gast, der Lehrreiches aus seiner dreijährigen Arbeit mit Konfliktparteien in Afghanistan, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo zu berichten hatte. Zum anderen ist dort das Projekt “Customary International Humanitarian Law” angesiedelt, eine Kooperation des Lauterpacht Centres mit dem Britischen Roten Kreuz und dem IKRK. Das Projekt sammelt weltweit Praxis, um die Gewohnheitsrechtsstudie des Roten Kreuzes zu aktualisieren. In seiner viel beachteten Gewohnheitsrechtsstudie veröffentlicht das Rote Kreuz das gewohnheitsrechtlich anwendbare Recht im bewaffneten Konflikt. Dabei geht es insbesondere darum, welche und vor allem wessen Praxis für die Ermittlung von Völkergewohnheitsrecht erheblich ist. Nach herrschender Völkerrechtstheorie sind die Praxis und Rechtsüberzeugungen (opinio iuris) nur von Staaten relevant. Zunehmend wird aber gefordert, auch die nichtstaatlichen Gewaltakteure zu berücksichtigen, da diese heute – anders als bei der Entwicklung der staatszentrierten Völkerrechtstheorie – eine zentrale Rolle einnehmen. Staaten wehren sich jedoch gegen eine Öffnung, denn sie fürchten, nichtstaatliche Gruppen könnten legitimiert werden und das Monopol souveräner Staaten bei der Rechtsetzung würde untergraben. Das IKRK verfolgt einen klassischen, staatenzentrierten Ansatz und kooperiert mit den nationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften. Gleichzeitig verfügt das IKRK aber über breite Erfahrung und direkte Einblicke in die Tätigkeiten der verschiedenen Gewaltakteure, welche aber für die Gewohnheitsrechtsstudie nicht unmittelbar genutzt werden. Den Mitarbeitern in Cambridge über die Schulter zu schauen und sie im Spannungsfeld zwischen Praxis, Pragmatismus, Wissenschaftlichkeit und humanitären Idealen zu sehen, bot unserem Teilprojekt neue Perspektiven auf die Legitimität der Normsetzung im humanitären Völkerrecht.
Nichtstaatlichen Akteuren eine formale Rolle in Rechtsetzungsprozessen zuzuweisen, scheint derzeit nicht opportun, möchte das Völkerrecht in den aktuell schwierigen Zeiten für Staaten relevant bleiben. Seit jeher reibt sich die Völkerrechtsordnung zwischen Vision und Stabilität auf – für Beides bleiben staatliche Strukturen von primärer Bedeutung. Die Kunst wird wohl vorerst darin liegen, kreativ die hergebrachten Kanäle und Methoden zu nutzen, um den schwerfälligen Dampfer Völkerrecht durch die Gegenwart auch in die Zukunft zu bringen.
Über den Autor: Anton Petrov ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt C8 – Legitimität und Normsetzung im Humanitären Völkerrecht des SFB700. In diesem Rahmen untersucht er die Rolle und Legitimität von Expertengremien bei der Entwicklung des humanitären Völkerrechts. |