Am 12. Januar 2010 zerstört ein Erdbeben Port-au-Prince, die Hauptstadt von Haiti. Innerhalb von 30 Sekunden sterben mehrere hunderttausend Menschen, mehr als eine Millionen Einwohner/innen verlieren alles. Bereits vor dem verheerenden Beben von 2010 waren sie bekannt, die schlechten Nachrichten aus Haiti, geprägt von Armut und politischer Instabilität. Gewöhnt hat man sich daher an die Bilder von Armut, physischer Zerstörung und wütenden Demonstranten.
Das für diesen Beitrag ausgewählte Foto zeigt jedoch eine andere Realität. Eine Villa, umgeben von parkenden Jeeps, grünen Palmen und Gemäuer. Es ist die Realität internationaler Organisationen (IOs).
In unserem D8 Projekt `Talk and Action´. Wie internationale Organisationen auf Räume begrenzter Staatlichkeit reagieren untersuchen wir die Perspektive internationaler Organisationen (IOs) auf den Staatlichkeit, ihre Wahl von Governance-Aktivitäten sowie die Wahrnehmung ihrer eigenen Rolle. Konkret führte ich in Haiti Interviews mit Mitarbeiter/innen der Weltbank, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), des Welternährungsprogrammes (WFP), der Inter-Amerikanischen Entwicklungsbank (IDB) und mit dem Nothilfeprogramm der EU (ECHO) – allesamt IOs, die sich um Ernährungssicherheit bemühen.
Haiti ist das Land in unserem Projekt, welches sowohl bei der Stärke administrativer Kapazitäten, als auch dem Grad des Gewaltmonopols laut Bertelsmann Transformation Index (BTI) am schlechtesten abschneidet. Mitarbeiter/innen der IOs berichten von einer unendlich langen Liste struktureller Defizite des haitianischen Staates. Genannt wurde neben dem Mangel an materiellen Ressourcen auch die Unfähigkeit der Administration, vorausschauend zu planen. Schließlich führten die schwachen Institutionen dazu, dass Bürgermeister/innen und Minister/innen zunächst ihre eigene Klientel bedienen müssten, um sich an der Macht zu halten.
Das Gewaltmonopol in Haiti liegt nicht in den Händen des Staates. Es gibt keine Armee – die VN-Friedenstruppe MINUSTAH sichert nach eigenen Angaben den Frieden. Zum Glück gibt es derzeit keine Rebellengruppe, welche diesen Frieden auf die Probe stellt. Für die IOs stellt das latent eingeschränkte Gewaltmonopol keine Herausforderung dar, da der Zugang zu den Governance-Adressaten gewährleistet werden kann.
Haiti, eine “Republic of IOs”? Nein, nicht mehr. Das Budget der Hilfe für Haiti ist wieder auf das Niveau vor 2010 zurückgegangen. Entgegen des in Haiti recht verbreiteten Narratives von einer ineffizienten, neo-kolonialen Entwicklungshilfeindustrie traf ich auf eine Vielzahl von Expert/innen, die erstens sehr kompetent in ihren Themenfeldern sind, denen zweitens das Wohlergehen der Bevölkerung am Herzen liegt und die sich drittens eine Menge Gedanken darüber machen, welche Maßnahmen nun wirklich zu positiven Ergebnissen führen könnten. Alle IOs, die unser Projekt betrachtet, haben in den vergangenen Jahren umfassende Evaluationen durchgeführt, um ihr Engagement in Haiti nach dem Erdbeben auszuwerten. Es herrschte Konsens zwischen den Organisationen, dass unmittelbar nach dem Beben eine Parallelstruktur zum Staat aufgebaut werden musste, um die Hilfe zu koordinieren. Aus den durchaus selbstkritischen Reflexionen der IOs geht jedoch auch hervor, dass der Übergang von Not- auf Entwicklungshilfe nie wirklich stattgefunden hat. Bis heute ist es für viele eine enorme Herausforderung, die richtige Balance zwischen Solidarität und Souveränität zu finden. Angesichts schwach ausgeprägter staatlicher Strukturen und einer kaum rechenschaftspflichtigen Elite können Governance-Leistungen langfristig nur in Kooperation mit engagierten lokalen Gestalter/innen effektiv erbracht werden. Erste Auswertungen der Feldforschung legen nahe, dass insbesondere IOs mit einem Fokus auf Entwicklung sich zunehmend kreativer Mittel bedienen, um den Aufbau lokaler Kapazitäten zu fördern. Doch auch humanitäre Organisationen versuchen derzeit verstärkt, nicht-staatliche Governance-Instituitonen einzubeziehen. Den IOs ist dabei grundsätzlich klar, dass sie bisweilen auch dort Verantwortung abgeben müssen, wo der Staat sowie nicht-staatliche Akteure sie nicht sofort zu 100% ersetzen können. Nur so kann der Teufelskreis aus Fremd- und Selbst-Entmachtung durchbrochen werden.
Parallel dazu steht jedoch bereits die nächste Notsituation vor der Tür: Die Böden in Haiti sind am Rande der Belastungsgrenze. Wirbelstürme, Flut, Rodungen und der Einsatz von Pestiziden machen ihnen schon seit langem zu schaffen. Nach drei Jahren Dürre in Folge kam es dieses Jahr erneut zu Ernteausfällen. Die IOs bereiten aktuell ihre Nothilfe vor, um den rund eine Millionen Menschen, die voraussichtlich von großer Nahrungsunsicherheit betroffen sein werden, zu helfen. Ohne sie wird es nicht gehen. Noch nicht.