Projektbeschreibung
Das Teilprojekt untersucht anhand von drei systemischen und drei politisch-gouvernementalen Faktorenbündeln den Zusammenhang von Governance und Gewalt im Kontext der amerikanischen und australischen Besiedlungsgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Siedlerimperialismus). Das Projekt fragt, unter welchen Bedingungen von Governance und Kleinstereignissen an der Frontier die friedliche Kohabitation zwischen weißen Siedlern und indigener Bevölkerung in eine Situation von low intensity warfare umschlägt. Das Projekt zielt auf die Erklärung des „Erfolgs“ des Systems „Siedlerimperialismus“.
Langfassung
Das Teilprojekt B3 „Colonial Governance in britischen und französischen Kolonien in Nordamerika“ untersuchte in der ersten Projektphase frühneuzeitliche Formen von Governance, die sich auf die Siedlerbevölkerungen der jeweiligen Kolonien beziehen. In Anlehnung an das von Foucault geprägte Konzept der „Mikrotechniken der Macht“ analysierte und typisierte das Projekt dazu Governance-Strukturen, verstanden als selbst-referentielle Regulationssysteme europäischer Siedlerkolonien. Das Projekt konzentrierte sich insofern auf die Erarbeitung einer soziologisch-politischen Binnenperspektive der Siedlergesellschaften. Die indigene Bevölkerung wurde nur in soweit berücksichtigt, wie sie direkt – etwa als Sklaven – in Governance-Prozesse der Siedlergemeinschaften einbezogen war.
In der zweiten Phase des SFB stellt das Teilprojekt C4 (ehemals B3) das Verhältnis der Siedler zur indigenen Bevölkerung in den Vordergrund der Untersuchung (Siedlerimperialismus). Historisch wird die frühe Republik (USA) bzw. der Übergang Australiens von der Kronkolonie zum Dominion in den Blick genommen. In der zweiten Phase konzentriert sich das Projekt, wie die übrigen historischen Teilprojekte, auf transitorische Governance-Konstellationen in historischen Umbruchsituationen. Dabei sollen die herausgearbeiteten Governance-Strukturen insbesondere im Hinblick auf ihre „Effektivität“ überprüft werden (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance).[1] Dazu wird das Projekt den Zusammenhang von Governance und Gewalt untersuchen. Es analysiert Faktoren, die helfen, den Umschlag von einer stabilen bzw. relativ friedlichen Situation der Kohabitation von weißer und indigener Bevölkerung in eine Situation aggressiver Landnahme, die Formen und Merkmale von low intensity warfare annehmen konnte, zu erklären.
Empirisch konzentriert sich das Teilprojekt auf die langsamen Prozesse der Landnahme, Verdrängung und Auslöschung indigener Gesellschaften in den USA (Besiedlung des Northwest Territory im Zeitraum 1787-1858) und Australien (Besiedlung New South Wales und Victoria 1788-1851) im Vergleich. Die zentralen Beobachtungseinheiten des Teilprojekts sind erstens jene Konstellationen in diesem prekären Prozess, in denen gouvernementale Ordnungsansätze beobachtet werden können, zweitens die Kleinstereignisse und Mikropraktiken an der Frontier, die im Sinne systemischer Kontextvariablen operationalisiert werden.
Ausgehend von der Governance-Definition des SFB (à SFB Rahmenantrag) fragt das Projekt: Unter welchen Bedingungen von Governance und Kleinstereignissen an der Frontier kommt es zum Übergang von Kohabitation zu low intensity warfare? Welche Rolle spielen kulturelle Kontextbedingungen für eine Entscheidung zum Kampf bzw. für die Entscheidung zum Einsatz von Gewaltmitteln? Inwieweit sind die hier zu beobachtenden menschlichen Aktionen durch „intentional entities“ wie Glaubenssätze, Diskurse und Begehren beeinflusst (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse) und inwieweit werden die Entscheidungen von Menschen durch nicht-intentionale Handlungsregulierung wie Formen der Selbststeuerung oder durch Mikrotechniken der Macht, etwa Rolle und Position innerhalb hierarchischer Subsysteme, gesteuert (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse)? Welche unbeabsichtigten Konsequenzen kollektiver menschlicher Entscheidungen bewirken das Umschlagen von Governance in Gewalt (à SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zu Governance)? Welche Interaktionsformen charakterisieren den Konfliktfall, und was erklärt letztlich den Erfolg der Siedler bei der Landnahme?
Bericht über die bisherige Entwicklung des Teilprojekts
Bericht
Das Teilprojekt hat sich in der ersten Phase mit dem Zusammenhang von institutionalisierten Herrschaftsformen, politischer Macht und Steuerungshandeln im historischen Kontext frühneuzeitlicher Siedlungskolonien in Nordamerika beschäftigt. In Anlehnung an das von Foucault geprägte Konzept der „Mikrotechniken der Macht“ analysierte und typisierte das Projekt Governance-Strukturen, verstanden als selbst-referentielle Regulationssysteme europäischer Siedlerkolonien. Ziel des Projekts war die Entwicklung einer Typologie von „Colonial Governance“. Dazu wurde im engen Austausch mit den historischen und rechtswissenschaftlichen Teilprojekten sowie mit den Projekten im Projektbereich B eine Vergleichsmatrix entwickelt, die vier Dimensionen umfasst:
(1) Akteure/Akteursebenen: dazu gehören Governance-Modi (hierarchisch/nicht-hierarchisch), Institutionalisierungsgrad und Grad der Ausdifferenzierung des Systems kolonialen Regierens;
(2) Mehrebenencharakter von Colonial Governance: Hier wurden fünf Ebenen von Akteursbeziehungen unterschieden, nämlich Mutterland – Kolonie; Kolonialverwaltung – Siedler; Kolonialverwaltung – Indigene; Plantagenbesitzer/Händler/Missionare – Indigene; Indigene untereinander. „Private Akteure“ traten auf beiden Seiten auf, auf der Seite der Kolonisierer als auch der Kolonisierten. Häufig war den Einheimischen der funktionale Unterschied zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren wenig bewusst, so dass sich die Frage stellt, inwieweit die Uneindeutigkeit der Rollenzuschreibung die Herausbildung spezifischer kolonialer Governance-Formen beeinflusst hat.
(3) Bevölkerungsdichte und kulturell-ethnische Heterogenität der Bevölkerung: Diese Dimension thematisiert auch die Fluidität von Governance-Räumen und Governance-Kollektiven. Die Ergebnisse aus diesem Bereich prägten maßgeblich die Diskussion in der Querschnittsgruppe „Räume“.
(4) Weltsichten, Vorstellungen von guter Herrschaft und Kolonisierungsart (Siedlungskolonien, Herrschaftskolonien, Stützpunktkolonien): Diese Dimension beinhaltet auch die Frage nach verschiedenen Begründungen von Legitimität, die sich in den untersuchten kolonialen Räumen sehr unterschiedlich darstellte. Während die Siedler in Nordamerika und auch die chinesische Bevölkerung die Legitimität durch (Governance-)Leistungen in den Vordergrund stellten (à D5 Leutner), begründeten die Kolonisierer in Lateinamerika ihre Herrschaft primär über religiös fundierte Legitimitätsmodelle, d.h. über den Verweis auf das Gottesgnadentum (à C5 Rinke sowie Lehmkuhl/Nagl/Stange 2009).
Unter der für das Gesamtvorhaben zentralen Perspektive der Analyse von Governance-Akteuren und Modi der Handlungskoordination konzentrierte sich das Teilprojekt auf
(a) die vergleichende Erfassung der Rolle privater Akteure bei der Etablierung und Entwicklung des französischen und britischen Kolonialreiches in Nordamerika;
(b) die vergleichende Analyse von Formen begrenzter Staatlichkeit in kolonialen Herrschaftskontexten;
(c) den Transfer und die Adaptation von Governance-Institutionen;
(d) die vergleichende Analyse der Legitimität kolonialen Regierens;
(e) die Rolle kolonialer und
(f) metropolitaner Governance-Akteure; sowie auf
(g) die Bedeutung des Faktors „Raum“ für die sich herausbildenden Formen kolonialen Regierens.
Ad a): Die militärische und fiskalische Schwäche des frühneuzeitlichen Staates erzwang die Beteiligung privater Akteure an den Kolonisierungsbestrebungen. Zu unterscheiden sind dabei private Einzelpersonen, sogenannte proprietors, und koloniale Handelskompanien als Vorläufer moderner Aktiengesellschaften. Durch die Übertragung von Regierungsbefugnissen auf private Akteure konnte der frühneuzeitliche Staat Aufgaben und finanzielle Aufwendungen auf Dritte abwälzen, während gleichzeitig die Rechtsform der Handelskompanie die Akquirierung neuer finanzieller Ressourcen erlaubte. Kolonialen Handelsgesellschaften und privaten Eigentümerkonsortien kam insbesondere in der Frühphase der Kolonisierung von South Carolina, Massachusetts, Louisiana und Kanada eine Schlüsselrolle zu. Da sie sowohl wirtschaftliche Interessen verfolgten als auch von den jeweiligen Mutterländern mit Regierungsaufgaben betraut wurden, standen sie in einem widerspruchsvollen Spannungsfeld zwischen Profitinteressen und Gemeinwohlorientierung. In allen von uns untersuchten Fällen führte dieser Konflikt zur Beendigung der privaten Company Rule bzw. Proprietary Rule (South Carolina) zugunsten der Einführung einer königlichen Verwaltung. Konkret bedeutet dies, dass – mit Ausnahme von Massachusetts, wo die Handelskompanie im Grunde eine im Besitz der Siedler befindliche politische Körperschaft darstellte – der Übergang von einer durch private Akteure geprägten Situation kolonialer Governance zu einer stärkeren Präsenz protostaatlicher Institutionen und Akteure auf das politische und administrative Versagen von Handelskompanien und Eigentümern zurückzuführen ist. Die Gründe hierfür müssen in dem ökonomischen Profitinteresse, der materiellen Überforderung und der mangelnden Gemeinwohlorientierung der privaten Akteure, die sich u.a. in Korruption und Machtusurpation ausdrückten, gesucht werden (vgl. Lehmkuhl 2007).[2] Für beide französischen Kolonien gilt aufgrund einer stärker etatistisch-hierarchisch aufgebauten Verwaltungsstruktur außerdem, dass die französischen Handelsgesellschaften wesentlich stärker in eine staatlich regulierte, merkantilistische Wirtschaftspolitik integriert waren. Staatliche Investitionen und Funktionsträger spielten in diesen Handelsgesellschaften eine erhebliche Rolle. Es ist deshalb fraglich, ob diese Gesellschaften tatsächlich private Akteure im heutigen Sinne darstellten oder ob es sich nicht vielmehr um hybride Konstrukte sowohl privaten als auch öffentlichen Charakters handelte.
Ad b): Die für die nordamerikanischen Siedlungskolonien charakteristische Form begrenzter Staatlichkeit kam in einem doppelten Sinne zum Tragen: einmal als mangelnde Kontrolle durch die Metropole und zum anderen als mangelnde Durchsetzungsfähigkeit oder politisches Fehlverhalten der metropolitanen Agenten. Diese spezifische Form begrenzter Staatlichkeit schuf Freiräume für die Siedler, die sich gegen die Zentralisierungsbemühungen zur Wehr setzten und sich zunehmend politisch selbst organisierten. In lokalen und transkolonialen Netzwerken oder Implementierungspartnerschaften entwickelten sie politische Mechanismen und Steuerungsinstrumente zur Sicherung der materiellen Basis für die weitere Besiedlung und die wirtschaftliche und soziale Stabilisierung der Kolonie. Herauszuheben sind in diesem Zusammenhang insbesondere die kolonialen „assemblies“, die sich aufgrund ihrer „power of the purse“ zum eigentlichen Governance-Instrument der Siedler in den britischen Kolonien herausbildeten. Die lokale Macht der Siedler war derart ausgeprägt, dass sie im Unterschied zu den Bauern, Handwerkern und Händlern in Europa, Widerstand gegen die koloniale Repräsentanz metropolitaner „Obrigkeit“ leisten konnten, ohne mit schweren Sanktionen rechnen zu müssen. Beispiele dafür finden wir in allen vier Kolonien. Hier sei exemplarisch auf den erfolgreichen Widerstand der Siedler gegen Steuererhebungen in der Nouvelle-France hingewiesen, der sich in der Weigerung der „habitants“, den Kirchenzehnt in voller Höhe zu zahlen, ausdrückte. In South Carolina gingen die von einer Kriminalitätswelle heimgesuchten Siedler im Backcountry in den 1760er Jahren sogar noch einen Schritt weiter: Statt auf staatliche Hilfe zu warten, organisierten sie unter der Bezeichnung „Regulatoren“-Bewegung eine bewaffnete Gruppe, die Selbstjustiz praktizierte und die schließlich erfolgreich eine Reform des Gerichtswesens und des politischen Systems der Kolonie durchsetzte.
Ad c): Das sich in den nordamerikanischen Siedlungskolonien entwickelnde „System des Regierens“ war institutionell durch eine doppelte oder sogar eine mehrfache Hybridisierung gekennzeichnet. Beide Kolonialmächte übertrugen die heimischen politischen Institutionen auf ihre Kolonien in Nordamerika, aber im britischen Fall verfügten die Institutionen über ein stärkeres politisches Eigengewicht. Hinzu kamen neue Verwaltungsstrukturen, die im 16. und 17. Jahrhundert im Zusammenhang mit den sich abzeichnenden neuen Aufgaben für einen wachsenden frühneuzeitlichen Staat entstanden waren (z.B. der Tätigkeitsbereich des Intendanten) und ebenfalls auf die Kolonialverwaltung übertragen wurden. In den französischen Besitzungen finden wir eine Form der dual administration durch den Generalgouverneur und den Intendanten, während in den englischen Kolonien neben dem Gouverneur, mit Ausnahme von Pennsylvania, überall Typen eines Zwei-Kammer-Parlamentes etabliert wurden. Durch die relativ starke politische Position der Handelskompanien, die diese während der frühen Besiedlungsphase erworben hatten, existierte schließlich in den Kolonien im Unterschied zu Europa fast überall eine dritte Verwaltungsebene, nämlich die durch die Handelsgesellschaften eingerichteten Councils. Im Falle Louisianas schuf die Compagnie d'Occident (ab 1719: Compagnie des Indes) 1718 einen Administrative Council (Conseil de la commerce oder Conseil de régie), der im Gegensatz zu dem als oberster Gerichtshof der Kolonie fungierenden königlichen Conseil Supérieur mit der eigentlichen Verwaltung Louisianas betraut war. Ähnliche Entwicklungen finden wir in Neufrankreich, wo die Compagnie de la Nouvelle-France (auch genannt Compagnie des Cent Associés) 1647 in Montréal einen Conseil d’administration gründete. Dieser setzte sich aus dem Oberhaupt der Jesuiten in Kanada, dem Generalgouverneur der Nouvelle-France und dem lokalen Gouverneur Montréals zusammen und war für die Regierung und Verwaltung der Kolonie zuständig. Mitglieder der wirtschaftlichen, professionellen oder kirchlichen Elite waren in den englischen Kolonien analog dem Modell der vormodernen, korporativen politischen Gesellschaftsordnung als intermediäre Instanzen integrierender Bestandteil des auch weiterhin hierarchisch strukturierten und durch Privilegien regulierten politischen Systems.
Ad d): Der markanteste Unterschied zwischen dem englischen und französischen Modell liegt zweifelsohne in der unterschiedlichen Legitimierung politischer Herrschaft. Während die englischen Kolonisten das im Mutterland mit der Glorious Revolution von 1688 endgültig durchgesetzte Verständnis von Monarchie als parlamentarisch-demokratisch legitimierter Herrschaft auch nach Nordamerika trugen und zur Basis politischer Partizipationsrechte im kolonialen Raum umfunktionierten, blieb das absolutistische Selbstverständnis des französischen Königtums auch in Übersee ungebrochen. Fragen der Output-Legitimität spielten für die Siedler im Alltag allerdings eine weitaus größere Rolle als abstrakte Verfassungsprinzipien und Fragen der „demokratischen“ resp. religiösen Legitimation. Die kolonialen Verwaltungen mussten sich an der Bereitstellung von Gemeinschaftsgütern wie Sicherheit, Gesundheit und soziale Fürsorge messen lassen. Gelang dies nicht, griffen die Siedler in vielen Fällen zur Selbsthilfe und schreckten auch vor gewaltsamen Protesten nicht zurück. In Canada etwa löste eine Lebensmittelknappheit aufrührerische Proteste von Frauen aus.
Ad e): Besonders deutliche Unterschiede in den untersuchten kolonialen Räumen ergeben sich auch aus den jeweiligen Verwaltungsstrukturen, die in den metropolitanen Zentren zur Regelung kolonialer Politik etabliert wurden, und ihrer Rolle und Funktion als kolonialer Governance-Akteur. Während sich das britische Board of Trade als oberste koloniale Verwaltungsinstanz im britischen Kolonialreich nur wenig in die internen politischen Angelegenheiten der einzelnen Kolonien einmischte, regelte das französische Ministère de la Marine selbst unbedeutende Einzelheiten in Form detaillierter Anweisungen an die kolonialen Verwaltungsbeamten. Der hohe Grad der Abhängigkeit von politischen Entscheidungen im Mutterland, die starke Stellung einzelner Personen (wie der des Gouverneurs und der des Intendanten) sowie die politisch lähmende Wirkung persönlicher Konflikte zwischen führenden Kolonialbeamten sind für die französischen Kolonien charakteristisch. Die Kommunikation zwischen Kolonie und Mutterland war äußerst zeitintensiv. Daher wurden politische Entscheidungen oft über Monate oder gar Jahre verschleppt. Allerdings konnte die Eigeninitiative und Persönlichkeit von individuellen Gouverneuren und Intendanten in Einzelfällen dieses politische Vakuum ausfüllen. Einige koloniale Beamte konnten so durch persönliches Engagement einen erheblichen Einfluss auf politische Inhalte ausüben.
Die politische Entwicklung der französischen Kolonien verlief aus diesem Grunde wesentlich sprunghafter und weniger kontinuierlich als im Fall der englischen Kolonien, die zumindest nach der Etablierung mehr oder weniger normierter Verfassungsstrukturen über einen festgefügten Ordnungsrahmen und geregelte politische Entscheidungsmechanismen verfügten. Einerseits war die absolutistische Machtfülle der königlichen Verwaltung in den Kolonien noch größer als im Mutterland, da keine historisch gewachsenen Institutionen existierten, die politisch integriert werden mussten. Andererseits kann jedoch festgestellt werden, dass persönliche Rivalitäten und das Kommunikationsproblem die zentralistischen Züge der Kolonialverwaltung erheblich abschwächten.
Ad f): In den Mutterländern wurden für die Verwaltung der Kolonien entweder neue Verwaltungsapparate eingerichtet, oder bereits bestehende Institutionen zu diesem Zweck ausgebaut. Im britischen Fall war dies das Board of Trade and Plantations (1696), während die französischen Kolonien durch das Ministère de la Marine verwaltet wurden. Die metropolitanen Institutionen waren aber nicht immer in der Lage, eine effektive Kontrolle über die Kolonien auszuüben. Oftmals bestimmten daher zentrifugale Tendenzen und die Eigendynamik der lokalen Verhältnisse die politische Entwicklung vor Ort. Von herausragender Bedeutung war in diesem Zusammenhang die große räumliche Distanz zwischen Mutterland und Kolonien einerseits und die gewaltige territoriale Ausdehnung der Kolonien andererseits. Der Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Verwaltungsebenen nahm oft mehrere Monate in Anspruch. Unvorhersehbare Situationen wie Epidemien und Naturkatastrophen, Sklavenaufstände oder kriegerische Auseinandersetzungen mit der indigenen Bevölkerung und europäischen Kolonialmächten erforderten jedoch häufig ein schnelles Handeln. Die kolonialen Beamten waren daher in vielen Fällen gezwungen, eigenständige Entscheidungen zu treffen und diese im Nachhinein der Krone gegenüber zu verantworten. Einen wichtigen Faktor stellte auch die geostrategische Konkurrenzsituation der in Nordamerika engagierten europäischen Kolonialmächte dar. Insbesondere im 18. Jahrhundert kam es aufgrund dieser Tatsache immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die 1763 mit der Ausschaltung Frankreichs als Kolonialmacht in Nordamerika endeten.
Ad g): Die nördlichen Kolonien stellten Räume relativ kompakter Siedlungsstrukturen dar und entwickelten aus diesem Grund innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums territorialstaatliche Verwaltungs- und Regierungsstrukturen, die lokal stärker ausdifferenziert waren als in den südlichen Kolonien. Die Existenz mehrerer größerer Siedlungszentren bedingte eine stärkere herrschaftliche Durchdringung der Kernräume dieser Kolonien als im Süden. Auf lokaler Ebene entstand in diesen Zentren eine vollständig ausgebildete kommunale Verwaltungsstruktur, die sich in das Gesamtgefüge des kolonialen Regierungssystems einfügte. (Dies gilt auch für Canada als Herz der Nouvelle France. Die Teilkolonie Canada besaß die höchste Bevölkerungsdichte in der Nouvelle France und verfügte nur über eine vergleichsweise geringe räumliche Ausdehnung entlang des Sankt-Lorenz-Stroms.)
Die südlichen Kolonien wiesen durch ihre niedrige Bevölkerungsdichte, die Konzentration der Verwaltung in den Hauptstädten und die immense territoriale Ausdehnung nur eine geringe herrschaftliche Durchdringung der Frontier-Gebiete auf. Für beide südliche Kolonien gilt, dass das Spannungsfeld zwischen Frontier und urbanem Zentrum Governance-Konstellationen produzierte, die einen ausgeprägten Netzwerkcharakter hatten. Das lokale Zentrum dieser Politiknetzwerke war in der Regel identisch mit dem jeweiligen urbanen Zentrum der Kolonien. Die führenden politischen und wirtschaftlichen Familien waren in beiden Fällen – ebenso wie die Regierungs- und Verwaltungsbehörden – im Gebiet der jeweiligen Hauptstadt konzentriert. Während sich im Norden die Kolonialherrschaft territorial institutionalisierte und lokal ausdifferenzierte, bildeten sich im Süden Formen lokal begrenzter Herrschaft heraus, die auf Siedlungsebene nur rudimentär verankert waren. Die herrschaftliche Durchdringung des Raums war damit von geringerer Intensität, was sich auch in einer stärkeren militärischen Prägung der Frontiersiedlungen ausdrückte.
Die Dissertationen von Marion Stange und Dominik Nagl, der wissenschaftlichen Mitarbeiter während der ersten Förderphase des Teilprojekts, kontextualisieren die Ausprägung besonderer Governance-Problematiken im kolonialen Spannungsfeld zwischen Frontier und urbanen Zentren. Marion Stange untersucht für Louisiana und South Carolina im Rahmen eines britisch-französischen Vergleichs die politischen Regulationsmechanismen im Bereich von Gesundheit und Seuchenbekämpfung. Dagegen werden von Dominik Nagl in einem Nord-Süd-Vergleich Kriminalitätsbekämpfung, Armenfürsorge und Sklaverei als zusammenhängende Systeme sozialer Disziplinierung in Massachusetts und South Carolina analysiert. Im Vordergrund der Analyse stehen dabei in beiden Arbeiten die institutionellen und rechtlichen Regulationsmechanismen in den betrachteten Governance-Bereichen. Weder staatlichen noch privaten Akteuren wird dabei in der Untersuchung a priori eine privilegierte Stellung eingeräumt. Vielmehr wird das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure (Familie, Kirche, bedeutende Einzelpersonen, kommunale Verwaltung/lokale Beamte, Militär, Gerichte, höhere Beamte, kgl. Verwaltungsspitze/koloniale assemblies, metropolitane Ministerien usw.) anhand konkreter Fallbeispiele und Institutionen (Epidemien, soziale Unruhen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Armenhäuser, Plantagen usw.) auf möglichst dichter Quellenbasis analysiert. Weiche Steuerungsmechanismen wie religiöse Diskurse und Symbole werden dabei berücksichtigt, soweit sie für die Regelung der untersuchten Sachverhalte eine Rolle spielten.
Als ein zentrales Forschungsergebnis kann festgehalten werden, dass nicht-staatliche Akteure bei der Verwaltung der Kolonien (Sicherheit, Armenfürsorge, Gesundheit) von geringerer Bedeutung waren als ursprünglich erwartet. Zusammen mit der unter a) skizzierten Entwicklung, dass nämlich alle privaten Versuche des Regierens letztlich scheiterten und durch königliche Verwaltungen ersetzt wurden, stellt dies im Hinblick auf die Entwicklung des Forschungsprogramms sicherlich das wichtigste Ergebnis dar. So wird in der zweiten Förderperiode u.a. die Untersuchung der Entwicklung von der Produktion privater Güter hin zur Bereitstellung von Governance eine wichtige Forschungsperspektive darstellen (à SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zur Bereitstellung von Governance). Aber auch die starke Orientierung auf die Output-Legitimität, die wir in den historischen aber auch in den gegenwärtigen Kontexten haben feststellen können, soll in der nächsten Förderperiode stärker fokussiert werden und zwar anhand der Untersuchung des Zusammenhangs von materiellen Ressourcen und Governance (à SFB-Ziel 6: Materielle Ressourcen und Governance).
Hinsichtlich der Weiterentwicklung des Teilprojekts ist die Bedeutung der Selbstorganisationskräfte und der lokalen Macht der Siedler herauszustellen. Insbesondere in den Frontier-Siedlungen organisierten sie den kolonialen Alltag selbst, angefangen vom Justiz- und Gerichtswesen bis hin zur Verteidigung gegen äußere Feinde (in der Regel Indianer). Sie taten dies weitgehend unabhängig von politischen Vorgaben und waren in der Regel erfolgreich. Die Selbstorganisation war zum großen Teil eine Antwort auf die im Hinblick auf die Output-Dimension nicht oder nur unzureichend funktionierenden Kolonialverwaltungen. Die „Freiheit“ der Selbstorganisation wurde insbesondere von den Pionierfamilien als soziales Wissen an die nächste Generation und an neue Einwanderer weitergegeben. Dieses soziale Wissen und die damit verbundenen politischen Praktiken bildeten den institutionellen Kontext, innerhalb dessen die Westbesiedlung Nordamerikas vorangetrieben wurde. Er manifestierte sich in dem von uns in der zweiten Phase zu untersuchenden System des „Siedlerimperialismus“.
Geplante Weiterführung des Teilprojekts
In der zweiten Phase des SFB verlässt das Teilprojekt den Untersuchungszeitraum der ersten Projektphase und verändert auch die Vergleichseinheiten. Wie in der ersten Projektphase angekündigt, verschieben wir nunmehr den Untersuchungsschwerpunkt von der Analyse der Institutionalisierung von Herrschaft und den damit verbundenen Machtinstrumenten sowie dem Steuerungshandeln im Bereich der Mehrebenenverflechtung von metropolitanem Zentrum, lokalen Repräsentanten und Siedlern hin zur Untersuchung der Auslöser von Gewaltakten gegen die indigene Bevölkerung. Es geht also jetzt um die Untersuchung von Sicherheit als Governance-Leistung. Im Zentrum des Forschungsinteresses steht die Interaktion zwischen Siedlern und indigener Bevölkerung in Situationen, die durch transitorische Governance-Konstellationen in historischen Umbruchsituationen gekennzeichnet sind. Die Mehrebenenproblematik bleibt als Untersuchungsperspektive erhalten, erhält aber eine inhärent kulturelle Perspektive (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse). Anknüpfend an die in der ersten Phase herausgearbeiteten „weichen“ Steuerungsmechanismen fragt das Teilprojekt in der zweiten Phase nach ihrer Bedeutung für die Lösung von Problemen der inneren Sicherheit (Siedlerimperialismus) (à SFB-Ziele 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse sowie 3: Effektivität und Legitimität von Governance). Dabei greift das Teilprojekt auf die für die dritte Phase avisierte Schwerpunktsetzung voraus, indem es systematisch den Einfluss kultureller Faktoren auf die Entwicklung und Wirkung von Governance-Strukturen untersucht. Schließlich konzentriert sich das Projekt auf die Bedingungen, unter denen Akteure zu Governance-Akteuren werden bzw. umgekehrt die Bedingungen, unter denen die Bereitstellung von Governance zugunsten der Produktion privater Güter zurückgedrängt wird (à SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zu Governance). Damit trägt das Teilprojekt systematisch zur geplanten Theorie- und Begriffsbildung innerhalb des SFB bei.
Während das Teilprojekt B3 in der ersten SFB-Phase im Projektbereich B „Herrschaft“ angesiedelt war, ist die Fortsetzung des Teilprojekts im Projektbereich C „Sicherheit“ geplant. Die Analyse von Gewaltakten gegen die indigene Bevölkerung bezieht dabei die Phänomene Herrschaft und Macht als zentrale Kontextbedingungen für die Vertreibung und teilweise Ausrottung der indigenen Bevölkerung und die damit einhergehenden Gewalt- und Kriegshandlungen mit ein. Die Teilprojekte des Projektbereichs C haben dabei in der ersten Phase primär die Frage untersucht, welche Akteure an der Verknappung bzw. Wiederherstellung von Sicherheit beteiligt sind und von welcher Qualität die erbrachte Sicherheitsleistung ist. Das vorliegende Teilprojekt greift die Forschungsfragen des Projektbereichs C auf, konzentriert sich dabei jedoch vor allem auf die Auslöser von De- und Restabilisierungsprozessen. Das System „Siedlerimperialismus“ wird untersucht im Hinblick auf seine Fähigkeit, von der Phase der Kohabitation[3] in die Phase der kriegerischen Auseinandersetzung umzuschalten, und vice versa. Im Zentrum der Analyse steht die interdependente Konstellation von Kleinstereignissen[4] an der Frontier und spezifischen Governance-Initiativen der politischen Eliten in den Metropolen und den regionalen Zentren (Mehrebenenproblematik). Wichtig ist dabei die Feststellung, dass die Akteure in diesem Prozess nicht intentional genozidal handelten, sondern wenigen und einfachen Regeln folgten, die in ihrer Gesamtheit komplexe, nicht-lineare Konsequenzen zeitigten. Mit der von uns gewählten systemischen Perspektive öffnen wir den historischen Blick in Anlehnung an Michel Foucault auf „Strategien ohne Strategen“. In Einklang mit dem Gouvernementalitätsansatz werden damit Dimensionen von Governance beleuchtet, die bei einer reinen handlungstheoretischen Fundierung nicht in die Betrachtung einbezogen würden.
Forschungsziele und Leitfragen
Forschungsziele
Das Teilprojekt untersucht den Umschlag von Formen mehr oder weniger friedlicher Kohabitation zwischen europäischen Siedlern und indigenen Bewohnern der Kolonien und postkolonialen Staaten zu Formen bellikoser Interaktion bis hin zu offenen Kolonialkriegen. Das Projekt zielt dabei auf die Erklärung des reversiblen Übergangs von friedlicher Kohabitation zur low intensity warfare. In anderen Worten: wir wollen erklären, aufgrund welcher Faktoren das System „Siedlerimperialismus“ von der Phase der Kohabitation in die Phase der kriegerischen Auseinandersetzung umschaltet und es ihm dann wieder gelingt, in die Phase der Kohabitation zurückzukehren. Unter welchen Bedingungen von Governance und Kleinstereignissen an der Frontier kommt es zum Übergang von Kohabitation zu low intensity warfare? Welche Rolle spielen kulturelle Kontextbedingungen für eine Entscheidung zum Kampf bzw. für die Entscheidung zum Einsatz von Gewaltmitteln? Inwieweit sind die hier zu beobachtenden menschlichen Aktionen intentional durch Glaubenssätze, Diskurse und Begehren beeinflusst, und inwieweit werden die Entscheidungen von Menschen durch nicht-intentionale Handlungsregulierung wie Formen der Selbststeuerung oder durch Mikrotechniken der Macht, etwa Rolle und Position innerhalb hierarchischer Subsysteme, gesteuert? Welche unbeabsichtigten Konsequenzen kollektiver menschlicher Entscheidungen bewirken eine „Bifurkation“ [5] im Sinne des Umschlagens von Governance in Gewalt? Welche Interaktionsformen charakterisieren den Konfliktfall und was erklärt letztlich den Erfolg der Siedler bei der Landnahme?
Wir gehen erstens von der Annahme aus, dass die Fähigkeit, von der Phase der Kohabitation in die Phase der kriegerischen Auseinandersetzung umzuschalten, und dann wieder in die Phase der Kohabitation zurückzukehren, den Erfolg des Systems „Siedlerimperialismus“ erklärt. Wir gehen zweitens davon aus, dass die jeweiligen Übergänge gesteuert werden durch die interdependente Konstellation von Mikroprozessen bzw. Kleinstereignissen an der Frontier und je spezifischen Governance-Initiativen der politischen Eliten in den Metropolen und den regionalen Zentren (Mehrebenenproblematik). Dabei sollen unter Berücksichtigung der Ergebnisse der ersten Phase für die USA und Australien die Beziehungen zwischen (ehemaligem) Mutterland bzw. „metropolitanem Zentrum“ und „kolonialer Peripherie“, differenziert nach regionalem Zentrum, weißer Frontier, indigener Frontier und Backcountry, in die Beschreibung von Governance-Prozessen einbezogen werden. Mit der Analyse von Mikroprozessen und Kleinstereignissen und der Fokussierung von historischen Strukturen und längeren Prozessen greift das Teilprojekt wesentliche Aspekte der Kritik an mikrohistorischen Untersuchungen auf (Edgington 1985; Ginzburg 1993; Huffines 1997), die mit ihrer Konzentration auf Einzelindividuen (Akteure) und kleineren sozialen Netzwerken Strukturen und Prozesse häufig vernachlässigen.
In dem Teilprojekt ist beabsichtigt, eine vergleichende Darstellung der territorialen Expansion der Siedlergesellschaften der USA und Australiens im 19. Jahrhundert zu schreiben, die zugleich die Verflechtung dieser Geschichten im Sinne der Histoire Croisée herausarbeitet. Für die USA wird hier der Zeitraum 1778 (erste Verträge mit Native Americans nach der Unabhängigkeit der USA) bis 1858 (Aufnahme von Minnesota in die Union) zu untersuchen sein. In Australien ist vor allem die Phase von 1788 (Gründung von New South Wales) bis 1851 (Gründung von Victoria) interessant, in der man von einer vorstaatlichen Unabhängigkeit New South Wales’ vom britischen Mutterland sprechen kann (New South Wales Act, 1823). Die US-amerikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts war durch Expansion auf dem nordamerikanischen Kontinent geprägt, die dann gegen Ende des Jahrhunderts in eine wirtschaftliche und territoriale Expansion außerhalb der USA umschlug. Der Vergleich mit Australien bietet sich an, weil die australische Gesellschaft eine Siedlergesellschaft von zunächst vorwiegend britischen und irischen Siedlern war, die auf der Basis des Common Law und britischer Institutionen eine demokratische Verfassung etablierten, die die Grundlage für die territoriale Expansion Australiens ins Backcountry wurde. Die Vergleichbarkeit der beiden Fälle ergibt sich also aus den ähnlichen sozialen, politischen und imperialen Voraussetzungen („Anglosphere“), die jedoch zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. In den USA wurde die Zurückdrängung der Native Americans durch die Zentralregierung eher unterstützt als unterbunden und mittels Zessionsverträgen der „souveränen“ indianischen Nationen mit den Vereinigten Staaten abgesichert. In Australien, namentlich in New South Wales und Victoria, gab es durchaus Widerstand des emergenten Staates gegen ungebremste Expansion auf Kosten der Aborigines. Doch ist hier die Situation durch Großinvestoren beeinflusst, die, als „pastoral companies“ organisiert, sich riesige Ländereien für die Weidewirtschaft aneigneten.[6] So erwarb die (noch heute operierende) Australian Agricultural Company 1822 alleine eine Million Acres (4000 km2) im Hunter Valley (Hannah 2002).
Beide Expansionen sind vom Siedlerimperialismus angetrieben worden, und er sollte zur politisch wie sozial wichtigsten Kraft des 19. Jahrhunderts in beiden Gesellschaften werden. Diese Expansion verlief in weiten Teilen gewaltsam, war in erster Linie gegen die indigenen Bevölkerungen in Nordamerika und Australien gerichtet, gleichzeitig aber „nach innen“ demokratisch legitimiert und erfolgte nach formal rechtsstaatlichen Prinzipien. Die Verdrängung und Vertreibung der Indigenen konnten dabei in sehr unterschiedlichen Intensitätsstufen erfolgen. Neben offenem Krieg regulärer Armeen („Indianerkriege“) vertrieben polizeiliche Aktionen, Milizen der Siedler oder aber tagtäglicher Kleinkrieg mit den Siedlern die Native Americans und Aborigines von ihrem Land. Phasen intensiverer Landnahme durch die europäischen Siedler wechselten durchaus mit Phasen der Akkomodation, Kooperation und Kohabitation ab. Als langfristiger Prozess hatte der Siedlerimperialismus eine genozidale Wirkung, da durch die Landnahme, die Vertreibung und den Ökozid die Lebensgrundlage der indigenen Bevölkerungen zerstört wurde. Großflächige Entvölkerung bzw. demographische Katastrophen der Indigenen sind das augenfälligste Merkmal dieser Form des Genozids.
Wichtig für das Verständnis des hier verfolgten Ansatzes sind dabei zwei historische Besonderheiten: Erstens ist der Siedlerimperialismus demokratisch legitimiert. Die Siedler bewegten sich in einem durch das Common Law definierten rechtstaatlichen Raum und gründeten ihre Expansion in wesentlichem Maße auf Gesetze, die von repräsentativen Regierungsinstitutionen verabschiedet wurden (z.B. Harrison Land Act, 1800). Politische Eliten in den „Zentren“ und landnehmende Akteure an der „Peripherie“, der Frontier, wirkten dabei in Räumen zusammen, die durch transitorische Governance-Konstellationen in historischen Umbruchsituationen gekennzeichnet waren. Es gelang ihnen, qua demokratischer Legitimierung politischen Druck auf die Eliten aufzubauen, die ihrerseits die Akteure der Peripherie im Sinne ihrer politischen und ökonomischen Interessen integrieren konnten. Zweitens ist Genozid in dieser Phase des Siedlerimperialismus nicht an die Existenz eines intentionalen und massenhaften Tötungsereignisses gebunden, sondern ist ein Prozess, der unterhalb der Wahrnehmungsschwelle von historischen Ereignissen ablief und in dem Intentionalität kein Wesensmerkmal war (Finzsch 2008) (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance).
Forschungsstand
Die angestrebte Untersuchung des Systems „Siedlerimperialismus“ schließt an folgende Forschungskontexte an und entwickelt diese ausgehend von der Rezeption und Adaption systemtheoretischer Überlegungen weiter: a) Geschichte des Siedlerimperialismus; b) Expansionsgeschichte („Westward Expansion“); c) Genozidforschung; d) Geschichte des indigenen Widerstands sowie e) Forschungen zu Formen der Interaktion zwischen weißen Siedlern und indigener Bevölkerung (Middle-Ground-Ansatz).
Ad a) Geschichte des Siedlerimperialismus
Die englischen Wirtschaftshistoriker P.J. Cain and A.J. Hopkins (Cain/Hopkins 2001)haben auf der Grundlage des von Karl Marx entwickelten Erklärungsansatzes eine Theorie des Siedlerimperialismus vorgelegt, die die Rentierkapitalisten zu einem konstitutiven Bestandteil des Siedlerimperialismus macht. Für Cain und Hopkins beherrschten Rentenkapitalisten das britische Empire. Von ihnen abhängige und mit ihnen kollaborierende Eliten organisierten die Kolonien. Geographischer Handlungsmittelpunkt („Kern“) dieser Klasse war die Stadt London. Dabei gelang es der Londoner Elite seit Mitte der viktorianischen Epoche zunehmend, nicht nur die koloniale Ökonomie zu kontrollieren, sondern auch bestimmend in weltwirtschaftliche Zusammenhänge einzugreifen.
Unser Konzept von Siedlerimperialismus knüpft zwar begrifflich an diese Forschungstraditionen an, entwickelt sie jedoch weiter. Der Siedlerimperialismus in Nordamerika und Australien wurde nicht nur durch die Investitionen der Londoner Gentlemen in überseeische Besitzungen am Leben erhalten, die von ihren Renten lebten; er musste auch Akteure vor Ort finden, um zu funktionieren. So sehr die Identifizierung der „gentlemanly class“ als Kern des siedlerimperialistischen Projekts auch hilft, die Maschinerie des amerikanischen und australischen Siedlerimperialismus in den Metropolen zu verstehen, so sehr verstellt sie den Blick auf die Ränder der kolonialen Besitzungen und auf jene Prozesse, die im Zentrum unserer Analyse stehen: nämlich die sehr langsamen und tendenziell genozidalen Prozesse der Landnahme, Verdrängung und Auslöschung indigener Gesellschaften, die lokal primär von den Siedlern ausgingen und bei denen die „gentlemanly class“ nur mittelbar, über die Schaffung bestimmter ökonomischer Kontextbedingungen eine Rolle spielte.
In Anlehnung an Cain und Hopkins und unter Rekurs auf die Definitionen von langfristig wirkenden Netzwerken, wie sie von Fernand Braudel (1949, 1966, 1967), Gilles Deleuze und Felix Guattari (Stingelin 2000)vorgenommen worden sind, verstehen wir unter Siedlerimperialismus eine Form der intensiven und aggressiven kolonialen Landnahme, die unter Zurückdrängung der indigenen oder kolonisierten Bevölkerung vorgenommen wird, die das Land bis dato bebauten und besiedelten (Finzsch 2007, 2008). Das im Teilprojekt zu analysierende expansive System des „Siedlerimperialismus“ beruhte in Abgrenzung von Hopkins und Cain auf einer Verbindung der agrarischen Subsistenzwirtschaft an der Frontier mit dem Rentier- und Industriekapitalismus in den Städten. Dabei bildeten die Kapital besitzenden Eliten in den Städten und die sozialen Akteure an der Frontier ein komplexes, interaktives Netzwerk. Langfristig wirksame genozidale Prozesse können in diesem Zusammenhang ausgelöst werden, wenn agrarische Heimproduktion und/oder demographische Verschiebungen die rasche Erweiterung der bebauten Flächen erfordern (vgl. Operationalisierung). Diese Form der Expansion ist typischerweise mit einem Eindringen auf das Land der indigenen Bevölkerungen verbunden. „Squatting“, „preemption“[7] und andere Formen der Landnahme verliefen in der Regel gewaltsam und leiteten Phasen von low intensity warfare gegen die indigene Bevölkerung ein. Die im Zusammenhang mit Siedlerimperialismus zu beobachtende Form der Expansion ist insofern kein Imperialismus, der an eine monopolkapitalistische Produktionsform gekoppelt ist. Imperialismus bezeichnet hier vielmehr einen Prozess der Expansion, der u.a. auch angestoßen wird durch Verschiebungen innerhalb des beschriebenen ökonomischen Netzwerkes und der durch nicht-intendierte Formen der Handlungsregulierung inhärent genozidal sein konnte (Churchill 1997; Palmer 2000).
Ad b) Expansionsgeschichte
Die Geschichte der Landnahme bzw. der Expansion ist gut erforscht und bildet eine zentrale empirische Grundlage für die Untersuchung des Systems „Siedlerimperialismus“. Siedlerimperialismus in der im Teilprojekt vorgeschlagenen Definition bedeutet die serielle Wiederholung der gleichen oder nur wenig unterschiedlichen Kleinstereignisse im Kontext der amerikanischen und australischen Expansionsgeschichte: Dazu gehören u.a. der offizielle Erwerb indianischen Lands durch Friedensverträge oder Abkommen mit den Indigenen auf der Basis von Annuity-Zahlungen durch die amerikanische Regierung, die „illegale“ Bereitstellung von Land z.B. durch die britische bzw. australische Regierung, ohne es vorher durch Kauf von den Indigenen erworben zu haben (Bureau of Indian Affairs 1838; Grossman/Brussaard 1992; Oldham 1917; United States Congress 1998; Wynne 1925)und nicht zuletzt das „squatting“, d.h. die Überschreitung der Grenze zwischen kolonialen und indigenen Territorien durch die Siedler, indem sie selbständig Landansprüche absteckten, Land vermessen ließen, den Boden einfach besetzten, Zäune errichteten oder das Land brandrodeten (New South Wales Legislative Council Committee on Police and Goals 1835; Weaver 1996). Die Akteure dieser Form der Landnahme waren Squatterfamilien (Arrowsmith/Irish Academic Press 1977; Campbell/Dowd 1968; Curr 1968; Powell 1974; Weaver 1996)und Bauern, die Land billig von den Land Offices in Nordamerika und New South Wales oder Victoria kauften ([Anonymous] 1859; Campbell 1855; Clark 1984; Conover 1974; Hargraves 1855; Hawkins 2007; New South Wales 1841; Wright 1989). Sie werden in der vom Teilprojekt zu untersuchenden Akteurskonstellation neben der o.g. „gentlemanly class“ einen prominenten Platz einnehmen.
In der amerikanischen Variante des Siedlerimperialismus unterzeichneten indigene Bevölkerungsgruppen Verträge mit der Bundesregierung, aufgrund derer sie ihr Land aufgaben und sich im Backcountry neu niederließen (Kappler 1972). Hier hat die relativ frühe nationalstaatliche Entwicklung offensichtlich eine beschleunigende Wirkung auf die Landnahme insofern, als der sich entwickelnde Staat eine Verrechtlichung dieser Prozesse anstrebte und durchsetzte. Jeder einzelne Vertrag indianischer Gruppen mit der Bundesregierung zwischen 1783 und 1850 sah die Abtretung von Land an die weißen Siedler oder die Anerkennung der Suprematie der Regierung in Washington vor. Im Zeitraum 1800 bis 1875 verloren die Indianer in der Summe 1,6 Millionen Quadratkilometer Land, mehr als ein Fünftel Australiens oder dreimal die Fläche von Texas, wobei hier die Landverluste durch illegale Inbesitznahme oder durch illegalen Holzeinschlag nicht mitgerechnet sind. Hierin auch nicht eingeschlossen sind die großzügigen Landgeschenke der US-Regierung an die Veteranen verschiedener Kriege des 19. Jahrhunderts.
Australien war, wie das koloniale Nordamerika auch, eine Siedlerkolonie. Während der kolonialen Phase versuchte die britische Kolonialregierung in beiden Fällen, der aggressiven Landnahme und Expansion einen Riegel vorzuschieben. In Australien gelang dies noch weniger als im kolonialen Nordamerika, u.a. wegen der politischen und ökonomischen Interessen eines Teils der kolonialen Eliten und des mangelhaften Machtapparates vor Ort. Schon in den 1790er Jahren besiedelten britische Kolonisten die Gegend am Hawkesbury River, etwa 80 km nordwestlich von Sydney. Auf diese Weise wurden australische Aborigines am Zugang zu Wasser und Lebensmitteln gehindert. Es kam zu Feindseligkeiten, und die Siedler nahmen die Sache in die Hand, denn britische Truppen waren nicht verfügbar. Aus dieser Aktion entwickelte sich ein dauerhaftes Muster, das ein Jahrhundert lang Bestand hatte. In ganz Australien überstieg der Landhunger die Kontrollmöglichkeiten der australischen Regierung. Wo britische Behörden auf geordnete Verfahren setzten, die das Wohlergehen der Aborigines wenigstens im Ansatz berücksichtigten, drangen Siedler einfach ins Backcountry ein und wählten sich das beste Land aus. Wenn Truppen mobilisiert wurden, hielten sie unweigerlich zu den Siedlern (Moses 2000). Wie in den USA vermaßen Landvermesser riesige Flächen und Landagenten boten sie in Versteigerungen an, bei denen Spekulanten und Siedler als Käufer auftraten (Gates et al. 1996).
Zur Erklärung des Umschlags von friedlicher Kohabitation in Gewalt spielt der Faktor „Verfügbarkeit von Land“ ohne Zweifel eine bedeutende Rolle (à SFB-Ziel 6: Materielle Ressourcen und Governance). Die hier nur ansatzweise skizzierten Ergebnisse der Forschung zur weißen Landnahme und Expansion bilden deshalb eine wichtige Grundlage für die im Rahmen des Teilprojekts zu untersuchenden systemischen und politisch-gouvernementalen Faktorenbündel (vgl. Arbeitshypothesen). Gerade im Hinblick auf die Politik der Bereitstellung von Siedlungsland muss das Verhältnis von metropolitaner kolonialer Governance (Australien) bzw. nationaler Frontier-Governance (USA) zu lokalen Governance-Strukturen im Grenzraum selbst im Sinne der Mehrebenenproblematik kritisch in den Blick genommen werden. Semi-privaten Akteuren, wie den Land Companies in Nordamerika und Australien kommt dabei eine zentrale Rolle zu für die Erfassung von Prozessen, in denen die Bereitstellung von Governance zu Gunsten der Produktion privater Güter zurückgenommen wird. Mit der Analyse der Rolle der Land Companies im Kontext des Systems „Siedlerimperialismus“ wird das Projekt nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Forschungsprogramm des Gesamt-SFB leisten (à SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zu Governance), sondern auch eine Forschungslücke in der Literatur zur Expansionsgeschichte zumindest teilweise schließen. Denn bislang fehlen neuere Einzelstudien zu den Land Companies in Nordamerika und Australien. Die Einzelstudie zur Holland Land Company z.B. ist fast vierzig Jahre alt (Chazanof 1970).
Ad c) Genozidforschung
Das Teilprojekt untersucht die Bereitstellung der Governance-Leistung Sicherheit in kulturell heterogenen Grenzräumen von Übergangsgesellschaften. Dabei geht es in erster Linie darum zu erklären, warum die von den politischen Zentren bereitgestellten Governance-Leistungen zur Regulierungen des Besiedlungsprozesses nicht erfolgreich waren und die jungen Staaten den durch die lokalen Akteure im Prozess der Landnahme verübten schleichenden Genozid nicht verhindern konnten. Damit leistet das Teilprojekt auch einen Beitrag zur jüngsten Forschungsdiskussion um das Paradigma des Genozids. In der Forschung ist dieses Konzept bislang vorwiegend als chronologisch klar umgrenzbares historisches Ereignis mit bestimmten gewaltsamen Verlaufsformen bestimmt worden. Die Literatur zu diesem Thema ab 1980 umfasst mehrere tausend Titel. Die neueste Literatur kennzeichnet eine verstärkte Problematisierung des Begriffs (Altman 2008; Bergin 2008; Bloxham 2008; Ching 2008; Freedman 2008; Hagan/Rymond-Richmond 2008; Kallis 2008; Lattimer 2007; Moses 2008; Stone 2008; Totten et al. 2008; Totten/Parsons 2008; Waller 2007; Xavier 2008; Zahar/Sluiter 2008). Die von uns zu untersuchenden Formen der „Landnahme“ hatten nicht notwendig ausgedehnte Massenmorde an der indigenen Bevölkerung zur Folge (Curthoys/Docker 2001; Finzsch 2005, 2006, 2008)und dennoch führte die Serialität der mit der Landnahme verbundenen Mikroereignisse langfristig zur Vernichtung eines großen Teils der indigenen Bevölkerung. Diese „andere“ Qualität der mit dem System „Siedlerimperialismus“ verbundenen genozidalen Prozesse gilt es zu erfassen und theoretisch im Hinblick auf die zentralen Fragestellungen des SFB zu verarbeiten (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse, SFB-Ziel 2: Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance und SFB-Ziel 3: Von der Produktion privater Güter zu Governance). Die Governance-Perspektive erlaubt einen neuen Blick auf die hier zu betrachtenden genozidalen Prozesse, der sich grundlegend unterscheidet von der bisherigen Forschung, die in Auseinandersetzung mit den Konzepten „Indianerkriege“, „Massaker“ oder „Frontier Warfare“ geleistet worden ist und es versäumt hat, die Übergänge von Mikroprozessen zu Makroereignissen zu bestimmen.
Ad d) Geschichte des indigenen Widerstands (Resistance/Resilience)
Darüber hinaus kann das Projekt an die Forschungen zum indigenen Widerstand anknüpfen. Von Anfang an leisteten indigene Bevölkerungen Widerstand gegen die oben beschriebenen Formen der Landnahme, indem sie Ernten auf den Feldern verbrannten, Lebensmittel stahlen, Vieh töteten oder die Siedler direkt angriffen. In New South Wales begann dieser Widerstand schon 1790 (Medcalf 1993; Miller 1985; Newbury 1999; Pope 1989; Willmot 1988), im Falle Nordamerikas kann man alltägliche Widerstandakte schon im frühen 17. Jahrhundert im Umfeld des Pequot War belegen (Cave 1996; Deitch 2002; Mandell 2007; Orr 1980; Underhill 1638). Aber auch nach 1800 sind zahlreiche Akte individuellen und kollektiven Widerstands gegen weiße Landnahme dokumentiert (Churchill 2002; Fenelon 1998; Fischer 2002; Grounds et al. 2003; Josephy 1993; Katz 1975; Richardson 1973; Taylor/Pease G. Y. 1994). Auf eine Phase der Kriegsführung mit geringer Intensität konnten Polizei- und Strafaktionen der Siedler, der örtlichen Milizen, der berittenen Polizei oder des regulären Militärs folgen (Foster/Attwood 2003). Einsätze indigener Polizeitruppen gegen die Aborigines sind vor allem für Queensland belegt (Richards 2008). Die indigene Bevölkerung wurde in solchen Aktionen besiegt, auseinander getrieben oder gezwungen, sich ins Backcountry zurückzuziehen. In Nordamerika folgten Friedensverträge mit den Native Americans, und die Spirale von Landnahme und Kriegführung begann von neuem.
Amerikanischer und australischer „Siedlerimperialismus“ setzte sich nicht zuletzt auch wegen seiner rhizomatischen und dadurch elastischen Organisationsformen gegen weniger stark vernetzte indigene Gesellschaften durch. Dabei muss dieser Siedlerimperialismus durchaus auch als ein materielles Netzwerk verstanden werden, das durch einfache Regeln in Räumen begrenzter Staatlichkeit strukturiert, aber zugleich komplex organisiert war. Die indigenen Gesellschaften konnten daher nur schwer die Reaktionsweise des Systems „Siedlerimperialismus“ einschätzen. Das Teilprojekt wird zeigen, dass das Fehlen einer netzwerkartig strukturierten Form der Handlungskoordination innerhalb der indigenen Gesellschaften ein Grund für das letztendliche Scheitern indigenen Widerstands gegen die europäische Invasion darstellt.
Ad e) Der Middle-Ground-Ansatz
Zwar mangelt es nicht an Einzeldarstellungen der indigenen Geschichte in Nordamerika und Australien. Doch bleibt z.B. die Analyse der komplexen Interaktionsformen zwischen weißen Siedlern und indigener Bevölkerung, die nicht durch permanente offene Gewalt gekennzeichnet ist, auch nach der von White und anderen formulierten Kritik am Expansion-Resistance-Paradigma (White 1991)ein Forschungsdesiderat. Zwar hat White mit seinem Middle-Ground-Ansatz das einseitige Verständnis indigener-weißer Interaktion modifiziert. Doch auch bei White ist der Middle Ground weder stabil noch frei von Gewalt oder Auseinandersetzungen. White argumentiert, dass indianisch-weiße Beziehungen durch die Konstruktion eines im gegenseitigen Interesse stehenden Kommunikations- und Austauschsystems gekennzeichnet seien. Dieses System war geprägt durch Pragmatismus, der eine gegenseitige Akkomodierung erlaubte, die sich einer einseitigen Charakterisierung als Herrschaft, Unterwerfung oder Akkulturation entzog. In der folgenden Adaption des Paradigmas vom Middle Ground durch die Forschung hat sich eine Veränderung eingeschlichen, die eine Romantisierung des Middle-Ground-Konzepts erlaubt, so als ob dieser „mittlere Grund“ der Geburtsort nordamerikanischer Multikulturalität gewesen sei (Calloway 1997). Die Tatsache, dass weiße Siedler und indianische oder australische Bevölkerungen mit den Weißen nicht nur Krieg führten, sondern auch mit ihnen (ver)handelten oder zusammenarbeiten (mussten), bedeutete noch kein „going native“ der Weißen und hieß auch nicht, dass man eine gemeinsame Weltsicht teilte. Nur wenn indigene Gruppen mit den Weißen Handel trieben, konnten sie hoffen, in einer instabilen Welt zu überleben, in der es Epidemien, Landabtretungen und ein deutliches Machtgefälle zugunsten der Siedler gab.
Die kulturellen „Anleihen“, die auf beiden Seiten zu beobachten sind, sind nicht in erster Linie der Ausweis einer kulturellen Annäherung. Sie sind vielmehr Ausdruck einer pragmatischen Akkomodierung und gehen häufig auf das schwankende hegemoniale Gleichgewicht an der Frontier zurück, das in der Zeit vor 1815 existierte. Dieses resultierte aus den in dieser Phase amerikanischer Geschichte noch ausgeglichenen demographischen Verhältnissen zwischen indigener Bevölkerung, französischen Bewohnern und neu hinzugekommenen Angloamerikanern (Desbarats 2006; Herman 1999). Die demographischen Verhältnisse sowie die Interaktionsformen zwischen weißer und indigener Bevölkerung sind für die Erklärung des Erfolgs des Systems „Siedlerimperialismus“ ebenfalls entscheidend und werden im Rahmen des von uns zu untersuchenden systemischen Faktorenbündels berücksichtigt.
Für die Analyse der lokalen Aneignungs- und Abwehrprozesse (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit) ist schließlich das von der literaturwissenschaftlichen Forschung herausgearbeitete Argument zentral, dass indianisch-weiße Interaktion und die von den Siedlern alltäglich erfahrene Präsenz indigener Gruppen zur Nations- und Identitätsbildung auf beiden Seiten beigetragen haben, so als ob die „begrenzte Staatlichkeit“ durch die Präsenz von Indigenen kulturell konsolidiert worden sei (Bergland 2000; Hoxie et al. 1999; Scheckel 1998; Sweet 2001).
Methoden und Operationalisierung
Siedlerimperialismus definieren wir in Abkehr von bisherigen ökonomistischen und damit hierarchisch strukturierten Imperialismusdefinitionen als rhizomatische Expansion von Siedlerkolonien und Siedlerstaaten, die sich gegen eine räumlich und sozial externalisierte indigene Bevölkerung richten. Den Bezugsrahmen hierbei bildet eine emergente demokratische und egalitäre Gesellschaft weißer, vorwiegend protestantischer angelsächsischer Siedler. Die Organisationseinheit dieser Expansion ist die selbstgenügsame Familienfarm, die aber ab 1850 immer stärker in den kapitalistischen Weltmarkt integriert wird. Wir gehen im Teilprojekt davon aus, dass weder das historische Phänomen des Squatting, noch das beschriebene System des „Siedlerimperialismus“ aus linearen historischen Erklärungen hergeleitet werden können. Stattdessen plädieren wir für eine systemische Betrachtungsweise, die die Interdependenz der oben beschriebenen Beobachtungseinheiten (lokale Mikroprozesse und nationale und regionale Governance-Strukturen) betont. Mit Hilfe des Governance- und des Gouvernementalitätsansatzes öffnen wir so den historischen Blick in Anlehnung an Michel Foucault auf „Strategien ohne Strategen“ (Foucault/Gordon 1980; Laforest 1985; Leschke 1998). Dabei sind insbesondere zwei, das System kennzeichnende Ebenen analytisch zu verschränken:
(1) die jeweiligen Akteurskonstellationen und Akteursqualitäten (Mehrebenenproblematik);
(2) die Interaktionsformen (hierarchisch vs. rhizomatisch bzw. netzwerkartig).
Ad 1 Akteurskonstellationen: Es ist offensichtlich, dass eine derartige Form der Landnahme nur in Verbindung mit den Eliten der Ostküste beziehungsweise Londons, Sydneys und Melbournes zu organisieren war. Die Akteure der Landnahme waren einerseits die Siedler und Squatters an der Frontier (Swierenga 1989), andererseits die Finanziers, die das Land in großen Arealen erwarben, um es an landhungrige Siedler und Plantagenbesitzer weiterzuverkaufen (Bogue/Bogue 1957; Gates 1973; Hulbert 1915; Swierenga 1967). Auch wenn die Profite aus Landspekulation in der Forschung zunächst übertrieben worden sind, so geht doch ein beträchtlicher Teil der großen amerikanischen Vermögen des 19. Jahrhunderts auf Landspekulation zurück: Man schätzt, dass von den 4047 US-amerikanischen Millionären des Jahres 1892 1371 ihr Vermögen vollständig oder zum Teil durch Landspekulationen erworben haben (Ratner 1953). Aus der Geschichte der Universität Cornell wissen wir, dass die Universität ca. 5 Millionen Dollar durch Landspekulation verdient hat (Gates 1943). Nicht zuletzt der Morrill Act von 1862 sorgte dafür, dass Universitäten die Fläche von 17 Millionen Acres oder 70.000 km² erwerben und sie zur Anhäufung von Stiftungsmitteln in Höhe von 7,55 Millionen Dollar nutzen konnten (Hyman 1986; Whalen 2001). Ähnliches lässt sich über Australien sagen, denn auch hier existierten Squatters und Landspekulanten Seite an Seite (Weaver 1996).
Schließlich ist der sich entwickelnde Staat als Akteur zu nennen, dessen Rolle und Funktion ambivalent war. In kolonialen Kontexten fehlte es dem Mutterland oft an Macht und Einfluss, um seine Landpolitik zum Schutz der Indigenen und zur Verhinderung von Landspekulation umzusetzen (Bosse 1989; Duly 1965). Dennoch muss der Versuch der britischen Regierung, den „alten“ Westen nach 1763 für eine rasche Besiedlung zu sperren, als kontribuierender Faktor für die Amerikanische Revolution gesehen werden (Countryman 1996; Curtis 1972; Holton 1994). Mit der erfolgreichen Revolution wurde dann der Weg freigemacht für eine nationale Landpolitik, deren ehrgeizigster Ausdruck die Northwest Ordinance von 1787 war (Reid 2008). Dieses Gesetz organisierte nicht nur die bis dato nicht besiedelten Territorien und legte die Grundlagen für die Landnahme, es organisierte das Territorium auch politisch. Hierdurch wurde aus einem nicht-staatlichen Bereich ein Raum zunächst begrenzter, sich aber entwickelnder Staatlichkeit, in dem öffentliche Akteure (Mitglieder der territorialen Legislativen, Territorialgouverneure, Gerichte, Landvermesser) mit privaten Akteuren (Land Companies, Handelsgesellschaften) interagierten (Duffey 1995; Hill 1988; Kollmann 1976; Onuf 1987).
Ad 2 Interaktionsformen: Der hier beschriebene Prozess darf nicht als ein zentral geleiteter verstanden werden, sondern eher als von einer Art der Schwarmintelligenz angestoßener. Die einzelnen Akteure folgten wenigen und einfachen Regeln, die in ihrer Gesamtheit aber logische, wenn auch komplexe, nicht-lineare Konsequenzen zeitigten. Schwarmintelligenz ist „the emergent collective intelligence of groups of simple agents“ (Bonabeau et al. 1999)und damit nicht auf tierische Gesellschaften beschränkt. Die „Intelligenz“ entsteht nicht aus der Komplexität der beteiligten Akteure, sondern aus dem Set von Interaktionsmöglichkeiten zwischen Individuen und ihrer Umwelt. Die Systemtheorie hat diese Form der Interaktion „emergent property“ genannt (Georgiou 2003). So war es möglich, durch das Gefüge von einfachen individuellen und Gruppeninteressen (Landsuche) und die Formulierung gouvernementaler Regeln (Blake 1999; Scott 1995)durch Missionare und Politiker in einem widersprüchlichen Prozess Ergebnisse zu erzielen, die sich einer linearen oder gar monokausalen Erklärung widersetzen. Die Tatsache, dass es zu Widersprüchen in einem Netzwerk kommen kann, entwertet nicht die Idee des Netzwerks, sondern unterstreicht die analytische Nützlichkeit dieses Konzepts (Law/Hassard 1999).
Arbeitshypothesen
Wie oben ausgeführt zielt das Projekt auf die Erklärung des „Erfolgs“ des Systems „Siedlerimperialismus“. Dazu sollen erstens Faktoren analysiert werden, die die Entwicklung von einer stabilen bzw. relativ friedlichen Situation der Kohabitation von weißer und indigener Bevölkerung hin zu low intensity warfare mitangestoßen haben, wobei Situationen aggressiver Landnahme (squatting/preemption) diesem Prozess inhärent sein können; zweitens sollen Kleinstereignisse und Governance-Konstellationen untersucht werden. Beide Beobachtungseinheiten (Kleinstereignisse an der Frontier und Governance-Konstellationen) sind interdependent und wirken aufeinander.
Ausgehend von der Frage, welche Faktoren und Regeln gegeben sein müssen, damit die Situation einer Kohabitation stabil bleibt, untersucht das Teilprojekt sechs Faktorenbündel. Wir unterscheiden dabei systemische und politisch-gouvernementale Faktorenbündel:
Systemische Faktorenbündel
(1) Vorhandensein von Land im Westen (USA) bzw. Norden (Australien), inklusive Land, das durch Verträge mit den Indigenen freigegeben wurde (ausschließlich amerikanischer Fall)
Wir gehen davon aus, dass genügend Land im Westen bzw. Norden, ggf. bereitgestellt durch eine ausreichende Anzahl von Verträgen mit den Indigenen, die Situation der Kohabitation stabil hält. Im Falle einer Unterversorgung mit Land kann es zur Zunahme von squatting, zu Kriegen gegen die indigene Bevölkerung, aber auch zu einer Aktivierung der politischen Elite kommen, die neue Governance-Strukturen entwickelt, wie im Falle der Holland Land Company (Livsey 1996; Wyckoff 1988).
(2) Demographische Stabilität (Zustrom von Siedlern; Geburtenrate)
Zustrom und/oder Geburtenrate müssen stetig sein, um das System der Kohabitation stabil zu halten. Wenn der Zustrom der Siedler bzw. die Geburtenrate zu stark ansteigen und sich somit der demographische Druck erhöht, kann die Phase der Kohabitation instabil werden (hohe Interdependenz mit Faktor 1). Wenn umgekehrt der Zustrom der Siedler abnimmt, konsolidieren sich die indianischen Gesellschaften (z.B. 1770-1820, White 1991)und gewinnen so an Macht, um sich gegen das siedlerimperialistische Projekt zu wehren. Dies kann zu kriegerischen Auseinandersetzungen, aber auch zur Aktivierung der politischen Eliten führen.
(3) Ökologie
Eingriffe in die Natur im Sinne von Mikropraktiken (z.B. Brandrodung, Vertreibung des jagdbaren Wildes, Einführung von Monokulturen, Einhegung, Besetzung der Wasserplätze, extensive Viehzucht, etc.) wirken destabilisierend auf die Biotope und untergraben die Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerung an der Frontier (Ökozid). Die Ausdünnung z.B. des jagdbaren Wildbestandes führt in der Folge zu einer Aktivierung der Akteure des Backcountry (Pelzjäger, USA) und damit zu einer Verstärkung der Kooperation zwischen der indigenen Frontier (=Frontier 2) und dem Backcountry. Dies verstärkt die panindianische Kohärenz und damit die Möglichkeiten des indianischen Widerstands (Indian Republics). Im Falle Australiens führen Eingriffe in die Ökologie zu einer Einbindung indigener Arbeitskräfte in die Viehzucht und in Landbau weißer Siedler und damit zur Stabilisierung der Phase der Kohabitation.
Politisch-gouvernementale Faktorenbündel
(4) Qualität der Verteilungsmechanismen (Landvermessung und Distribution durch die land offices)
Wir gehen davon aus, dass die Nähe der land offices zu den Siedlungsgebieten der Frontier, die Parzellierung der zur Verteilung kommenden Landstücke, die Einführung eines Auktionssystems und die Bereitstellung von Krediten die Stabilität des Systems der Kohabitation befördern. Im Falle einer Distribution, die soziale Ungleichheit unter den weißen Siedlern verstärkt, weil sie das beste Land den Spekulanten und Großgrundbesitzern zukommen lässt, kann es zur Zunahme von squatting und zu Kriegen gegen die indigene Bevölkerung, aber auch zu einer Aktivierung der politischen Elite kommen, die neue Governance-Strukturen entwickelt.
(5) Politik der Einflussnahme auf die indigene Bevölkerung
Mit der Einrichtung der Indian Agents (USA) bzw. einer Commission of Indigenous Affairs (Australien) versuchten die Regierungseliten Einfluss auf die indigene Bevölkerung zu nehmen. Durch Ernennung von Annuity Chiefs als indigene Governance-Partner (USA), Verteilung von Lebensmitteln und Verbrauchsgütern, Einrichtung einer indigenen Polizei (Australien) und Abschluss von Militärbündnissen mit indigenen Gruppen wurde eine Governance-Struktur geschaffen, die Vertreter der indigenen Bevölkerung als intermediäre Instanzen einband. Wie das Teilprojekt C5 Rinke in der ersten Förderperiode gezeigt hat, kann diese Politik dann, wenn sie die Inklusion der Intermediären in die indigene Gruppe bewirkt, stabilisierend für die Phase der Kohabitation wirken. Gleiches gilt für die von uns zu untersuchenden Kontexte. Wenn die intermediären Instanzen sich allerdings zu weit von der indigenen Gruppe entfernen und/oder als verlängerter Arm Washingtons oder Sydneys wahrgenommen werden, kann es zum Umschalten der indigenen Bevölkerung auf die Phase der Kriegsführung kommen (z.B. Red Sticks War).
(6) Ökonomie als komplexes Geflecht des Warenaustauschs im Netzwerk von Zentrum (Washington, Sydney), Frontier 1 (=weiße Frontier), Frontier 2 (=indigene Frontier), sowie zwischen Frontier 2 und indigener Bevölkerung im Backcountry.
Das komplexe Geflecht der Frontier-Ökonomie ist elastisch innerhalb bestimmter Grenzen. Es wird einerseits begrenzt durch den Faktor Ökologie. In dem Moment, wo das Geflecht an die Grenzen der Nachhaltigkeit gerät, wird es gestört. Die Störung kann den Zustand der Kohabitation destabilisieren. Andererseits wird es durch außerökonomische politische Entscheidungen der metropolitanen und regionalen Eliten begrenzt. Wenn Washington bzw. Sydney die Lieferung von Waren an die Indigenen beschränkt bzw. einstellt oder wenn die Versorgung durch regionale Eliten eingeschränkt oder unterbrochen wird, kann dies zur Destabilisierung des Zustands der Kohabitation führen. Der Zustand bleibt stabil, solange die Frontier-Ökonomie den Warenaustausch zwischen den Akteuren (Zentrum, Frontier und Backcountry) gewährleistet.
Methodisch-theoretische Fundierung
Methodisch-theoretisch basiert der hier entwickelte Forschungsansatz auf den Arbeiten von Prigogine, Deleuze und Foucault. Die sich daraus ergebende Mikroperspektive, die die Prozessualität und Serialität von Kleinstereignissen analysiert, darf nicht mit dem Ansatz der Mikrogeschichte verwechselt werden. Unsere Untersuchung ist auf einen langen Zeitraum angelegt und zielt auf das Erkennen von Mustern zur Beantwortung der übergreifenden Fragestellung (= Makroperspektive, d.h. Systemstabilisierung oder dynamischer Wandel oder Destabilisierung oder Legitimationsverlust). Dazu greifen wir auf die umfangreiche mikrohistorisch angelegte Literatur zurück, betten deren Ergebnisse allerdings in einen größeren Rahmen ein. Dabei gehen wir – und dies erklärt die Fallauswahl – davon aus, dass der amerikanische und australische Fall miteinander verflochten sind. Methodisch geht es deshalb auch darum, Vergleich und Histoire Croisée als sich ergänzende und nicht sich gegenseitig ausschließende Methoden anzuwenden (Haupt/Kocka 1996; Kocka 1999, 2003). Gerade die Geschichte des Siedlerimperialismus in Nordamerika und Australien darf nicht beim Vergleich stehen bleiben, sondern muss auch als Verflechtungsgeschichte geschrieben werden. Wie die USA kann Australien zumindest ab 1850 als emergenter Nationalstaat in einem Empire verstanden werden. Es ist davon auszugehen, dass auch in Australien die Idee der australischen Souveränität ähnlich wie im amerikanischen Fall von Anfang an mit der Idee der territorialen Expansion verkoppelt war (vgl. Hardt/Negri 2000, 2004). Schließlich zeichnen sich beide anglophonen Gesellschaften durch den gemeinsamen Bezug auf das Common Law und die Tatsache der massenhaften Einwanderung von europäischen Siedlern im Untersuchungszeitraum aus.
Arbeitsprogramm und Zeitplan
Das Arbeitsprogramm umfasst im ersten Schritt (2010) die Entwicklung eines heuristischen Modells zur Quellenanalyse. Hierzu muss die einschlägige theoretische Literatur gesichtet, ausgewertet und auf historische Fragestellungen hin weiterentwickelt werden. Erste sondierende Besuche der einschlägigen Archive sind für das letzte Drittel des ersten Förderjahres vorgesehen. Daran schließt sich im zweiten und dritten Förderjahr (2011 und 2012) die systematische Sammlung und Aufarbeitung von historischem Quellenmaterial zur Frage der Landnahme, Verdrängung und Auslöschung indigener Gesellschaften in den USA und Australien an. Folgende Quellenbestände sind einzusehen:
In den USA: Library of Congress (Washington, DC), Rare Book Collection; National Archives (Washington, DC), Record Group 49 bezüglich der Bestände des General Land Office (Berichtszeitraum 1685-1989, bulk 1770-1982, ca. 59.000 Kubikfuß), der Land Entries nach dem Cash Act (1820), den Preemptions Acts (1830-1840), dem Donation Act (1850), dem Homestead Act (1862). Record Group 75, Bureau of Indian Affairs (Berichtzeitraum 1793-1989. Verträge der US-Regierung mit Native Americans 1778 bis 1850. Records of the Indian Claims Commission, Record Group 279. Benjamin Hawkins Papers im Alabama Department of Archives and History, Montgomery AL. James Wilkinson Papers in der Chicago Historical Society, Chicago IL. Lewis Cass Papers in der William L. Clements Library der University of Michigan, Ann Arbor, MI.
In Australien: National Archives of Australia (Canberra, ACT); Public Record Office, Victoria, Bestände bezüglich Crown Grants, Land Sales, 1852 bis 1913, Series VPS 1222; State Archives, New South Wales, bezüglich Bestände Land Records, Land Grants (1788-1856), Letters relating to land (1826-1856), Surveyor General’s Maps and Plans 1792-1886, Surveyor’s Letters 1822-1855, Land Grants prior to 1856; Akten der Native Police in NSW und Victoria, 1834 bis 1901; Proceedings der Criminal Courts in NSW und Victoria.
In Großbritannien: Ein Teil der Akten zur Kolonialverwaltung befindet sich im Public Records Office in London; Australien bemüht sich um eine vollständige Kopie dieser Bestände. Es ist unklar, wie weit Australien 2009 mit diesen Kopien gediehen sein wird. The National Archives (London): Records of the Aborigines Protection Society; Records of the Colonial Office; The National Archives (Liverpool) Record Office and Local History Service: Papers of the Stanley Family, Earls of Derby (Aborigines Protection Society); Library of Anti-Slavery International (London): Bestände der Aborigines Protection Society; Library des Rhodes House (Oxford ): Bestände der Aborigines Protection Society.
Stellung innerhalb des Sonderforschungsbereichs
Das Teilprojekt leistet einen Beitrag zu den Forschungsfragen des Projektbereichs C „Sicherheit“, indem es erstens nach der Rolle und Bedeutung nichtstaatlicher Gewaltakteure und der ihr Handeln strukturierenden Governance-Modi und Steuerungsformen fragt (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnissse). Staatlichkeit ist dabei insofern eine Kontextvariable (à SFB-Ziel 2), als wir es hier mit dynamischen Governance-Räumen und Übergangsgesellschaften zu tun haben, die in besonderem Maße durch transitorische Governance-Konstellationen in (historischen) Umbruchsituationen geprägt sind. Wie in den Teilprojekten C2 Chojnacki, C7 Schneckener und C8 Krieger untersuchen wir den Schatten der Hierarchie als Einflussfaktor auf die Sicherheits-Governance privater Akteure (Siedler und indigene Bevölkerung). Das Teilprojekt wird zweitens einen Beitrag leisten zur Analyse der Konstitution von Sicherheits- und Unsicherheitsräumen. Die von uns untersuchte Frontier ist als ein Raum zu beschreiben, der zwischen Sicherheit und Unsicherheit changiert. Dabei soll nicht nur in diesem Teilprojekt, sondern auch in den Teilprojekten C1 Zürcher, C2 Chojnacki, C3 Braig/Maihold, C7 Schneckener und C8 Krieger untersucht werden, welche Rolle beispielsweise die diskursive Konstruktion dieser Räume für die Sicherheitsproblematik spielt. Wer nimmt diese Räume als „unsicher“ und wer als „sicher“ wahr und mit welchen Konsequenzen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen den Sicherheitsproblemen und der Sicherheitsqualität in Grenzräumen? Drittens wird das Teilprojekt innerhalb des Projektbereichs Sicherheit einen Beitrag leisten zur Analyse einer kulturell kodierten Mehrebenen-Governance. In diesem Zusammenhang werden wir wie die Teilprojekts C2 Chojnacki, C3 Braig/Maihold, C5 Rinke und C6 Schröder entlang der Frage nach den soziokulturellen Voraussetzungen von Sicherheits-Governance unter Einbeziehung indigener Gemeinschaften in die politischen Prozesse lokale Aneignungs- und Abwehrprozesse untersuchen (à SFB-Ziel 4).
Es sind insbesondere drei Punkte, mit denen das Teilprojekt einen Beitrag zum Gesamtvorhaben leistet. Zum einen analysiert dieses Projekt Ursachen und Begleitumstände des Scheiterns von Governance. Dazu werden konkurrierende Governance-Konstellationen in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer (historisch kontingenten) Legitimationskonzepte untersucht. Damit trägt das Projekt dazu bei, die Governance-Debatte aus der ihr häufig innewohnenden normativen Teleologie herauszuführen bzw. die teleologische Argumentation durch die Hinzunahme der Option des Scheiterns zu korrigieren. In enger Kooperation mit den rechtswissenschaftlichen Teilprojekten B7 Schuppert und B8 Rudolf wird hier der Aspekt der normativen Pluralität zu diskutieren sein. Wer definiert, was Recht ist bzw. wer besitzt die Definitionsmacht? Mit welchen diskursiven Strategien wird diese Definitionsmacht durchgesetzt? Mit diesen und ähnlichen Fragen wird sich das Teilprojekt auch an den Diskussionen der neu eingerichteten Querschnitts-Arbeitsgruppe „Normative Fragen von Governance“ beteiligen.
Dies leitet über zum zweiten Beitrag des Teilprojekts zum Gesamtvorhaben: Durch die Perspektive der „longue durée“ trägt das Projekt im Kontext der Untersuchung von Governance-Modi dazu bei, die für die zweite Förderperiode angestrebte systematische Analyse von Formen diskursiver Steuerung zu erweitern um die Foucault’sche Dimension der Steuerung durch Diskurse. In den vom Teilprojekt zu analysierenden stark normgeprägten Gesellschaften ist es häufig notwendig, den für Aneignungsprozesse notwendigen normativen Resonanzboden erst zu schaffen (invention of tradition), bevor Formen weicher Steuerung greifen können. Auch hier stellt sich die Frage nach den politischen Designern und/oder den kulturellen Übersetzern und ihrer Legitimität. Wenn die von der Regierung in Washington eingesetzten Intermediären aufgrund ihrer neuen Funktion keinen Zutritt mehr zu ihren Gesellschaften erhalten, dann ist das Ausdruck eines Scheiterns von Governance und zugleich Ausdruck einer fehlgeleiteten kulturellen Übersetzungspolitik. Diese und ähnliche Fragen werden von allen historischen Teilprojekten gestellt. Aber auch die an Regionalstudien bzw. ethnologisch orientierten Teilprojekts (beispielsweise B6 Harders, C1 Zürcher, C3 Braig/Maihold) werden sich mit Fragen des Normentransfers und damit einhergehender Aneignungs- und Abwehrprozesse auseinandersetzen.
Drittens schließlich trägt das Teilprojekt zur Ausdifferenzierung der Mehrebenenproblematik bei. Es geht nicht allein um das Zusammenspiel von transnationaler, nationaler und lokaler (staatlicher) Ebene. Vielmehr gilt es mittels einer ethnographischen Perspektive nach der Relevanz unterschiedlicher kultureller Kontexte zu fragen, die der Mehrebenenproblematik inhärent sind. Was bedeutet es und welche Konsequenzen hat es, wenn der kulturelle Kontext der metropolitanen Akteure, die in einer bestimmten Region Governance-Leistungen erbringen, sich fundamental vom kulturellen Kontext der Akteure auf mittlerer und lokaler Ebene unterscheidet? Die Frage nach der cultural embeddedness von Mehrebenenkonstellationen wird dadurch komplexer, dass wir es in der Regel mit Übergangsgesellschaften zu tun haben. Die untersuchten Gesellschaften zeichnen sich durch eine gravierende Veränderung der sozialen und politischen Rahmenbedingungen aus und erleben grundlegende normative und rechtliche Verunsicherungen, die eine Herausforderung für existierende Governance-Strukturen darstellen. Es entstehen neue Akteure, z.B. Eigentümer – vertraglich legitimiert oder post hoc als solche definiert – , die Besitzrechte einfordern, ggf. auch mit Gewalt und gegen bestehendes Recht. Welche Konsequenzen diese komplexen Konstellationen für die Bereitstellung von Governance-Leistungen sowie für die Effektivität und Legitimität von Governance haben (à SFB-Ziel 3), soll auch mit Hilfe der Analyse des Systems „Siedlerimperialismus“ erhellt werden.
[1] Effektivität ist eine wertneutrale analytische Kategorie. Dies muss an dieser Stelle betont werden, weil sich die Untersuchung auf potentiell genozidale Prozesse bezieht. Aus diesem Grund ist hier unter dem Aspekt der Effektivität von Governance-Strukturen insbesondere zu prüfen, inwieweit es Akteuren in transitorischen Governance-Konstellationen gelingt, die unterschiedlichen Gruppen der Siedler mit ihren variierenden ethnischen und Klassenhintergründen in partizipatorische Ordnungsmuster einzubinden (Hooghe/ Marks 2003; Rao et al. 2007).
[2] Hier decken sich unsere Ergebnisse im Wesentlichen mit den Ergebnissen des Teilprojekts D2 Börzel, das nachweisen konnte, dass die Stärke bzw. Handlungskapazität des Staates eine zentrale Rolle für die Beteiligung z.B. von Unternehmen an der Bereitstellung von Governance-Leistungen spielt. Zwar ist schwache Staatlichkeit eine wichtige Voraussetzung für die Beteiligung privater Akteure an der Bereitstellung von Governance-Leistungen; gleichzeitig darf der Staat aber auch nicht zu schwach oder gar abwesend sein.
[3] Kohabitation schließt die folgenden Formen der Interaktion ein: relativ friedliches Mit- und Nebeneinander (Akkomodation); Handel und Warenaustausch; gegenseitige Hilfe bei der Besiedlung der Frontier (Kooperation); intermarriage (Kulturkontakt); darüber hinaus beschreibt Kohabitation Phasen des Übergangs von einer „friedlichen“ Form der Interaktion zu einer anderen.
[4] Unter Kleinstereignissen verstehen wir nach Farge (1997) und Foucault (1977) jene alltäglichen und habituellen Verrichtungen und (körperlichen) Praktiken, die von der Geschichtsschreibung gewöhnlich nicht wahrgenommen werden, die aber dennoch große Bedeutung für die Gestaltung einer historischen Umwelt haben.
[5] Bifurkationstheorie ist die mathematische Studie von Verhaltensänderungen in dynamischen Systemen. Sie erklärt die plötzlichen und scheinbar unvorhersehbaren Änderungen zum Beispiel eines Vektorenfelds (Kuznetsov 2004; Ma/Wang 2005). Auch wenn eine kongruente Übertragung der Bifurkationsmodelle aus den Naturwissenschaften auf die Humanwissenschaften nicht möglich ist, konzipiert das Projekt das Oszillieren zwischen „friedlichen“ und „gewaltsamen“ Systemzuständen als Bifurkation im obigen Sinne.
[6] So sah die Verfassung (Foundation Act) von South Australia von 1834 die Anerkennung der Rechte der Aborigines vor, was jedoch nicht umgesetzt wurde.
[7] Squatting = illegale Inbesitznahme staatlichen Landes; preemption = staatlich geförderte Inbesitznahme von Land zu geringen, bzw. keinen Kosten.