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Projektbeschreibung

 

In der zweiten Phase des SFB wird das Projekt vergleichend die Governance-Formen zur Herstellung von Sicherheit in den kulturell heterogenen Grenzbereichen zwischen den USA und Mexiko (Arizona, New Mexico/ Sonora, Chihuahua) sowie Argentinien und Chile (Patagonien) in den Mittelpunkt der Untersuchung stellen. Der Zeitraum 1857- 1886 schließt dabei an das Vorgängerprojekt an und ist von historischen Umbruchsituationen geprägt, so dass transitorische Governance- Konstellationen in Übergangsgesellschaften erfasst werden. Im Zentrum stehen Governance-Formen, die die Herstellung von Sicherheit in Zusammenarbeit mit der lokalen Bevölkerung (Mestizen, indigene Gruppen, transnationale Akteure) durch die Bildung von Milizen, Bürgerwehren oder Rekrutierung indigener Hilfstruppen ermöglichten. Das Teilprojekt fokussiert dazu den Adressatenkreis (Kollektive) und die soziokulturellen Voraussetzungen für Governance und fragt konkret nach den Auswirkungen forcierter Kollektivwandel und -verschmelzungen im untersuchten Zeitraum. Dabei werden die Transfers von Sicherheitsgovernance auf mehreren Ebenen untersucht:

1. auf lokaler Ebene: Welche autochthonen Konfliktlösungsstrategien wurden beibehalten und wie beeinflussten diese die überregionalen Ebenen? Wie wirkte sich ihre Übernahme auf die Effektivität und (Input-)Legitimität von Governance aus?

2. Auf nationaler Ebene: Wie sahen die Governance-Transfers aus den administrativen Zentren aus und welche Abwehr- und Aneignungsprozesse lassen sich feststellen?

3. Auf internationaler Ebene: Welche Kooperationen fanden zwischen den Anrainerstaaten statt und wie wirkten sich die konkurrierenden Staatlichkeiten und Machtverhältnisse auf lokaler Ebene aus (Staat als Kontextbedingung)?

Ausgangslage ist die im Vorgängerprojekt herausgearbeitete kulturelle Heterogenität der untersuchten Grenzbereiche, die als kontinuierlicher Faktor die Governance-Strukturen bedingte und die soziokulturellen Voraussetzungenfür Regieren schuf. Die Grenzgebiete, die aufgrund humangeographischer und topographischer Faktoren genaue Grenzziehungen ohnehin erschwerten, werden somit analytisch als transnationale Governance- Räume aufgefasst und hinsichtlich ihrer Bedeutung für die gemeinsame Geschichte der Nachbarländer untersucht. Als zweiter Faktor kommen die  intentionalen und nicht-intentionalen Kollektivverschmelzungen (Latifundienbildung, Mestizisierung, nation- building) hinzu, die einen neuen Adressatenkreis für Governance bereitstellten. Hierbei werden vor allem die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierenden Großgrundbesitzerfamilien als neue Governance- Akteure in den Blick genommen, die mit der Übernahme der Macht in den peripheren Regionen zu hybriden Sicherheitsakteuren mit einer doppelten Verpflichtung gegenüber Staat und Familienerbe werden.

Mit mikrohistorischen Methodenfokussiert das Teilprojekt dabei nicht-hierarchische Strategien der Konfliktbeilegung über Aushandlungsprozesse auf lokaler Ebene und untersucht die Implementierung weicher Steuerungsmechanismen unter Berücksichtigung der Mehrebenenverschränkungen mit Hilfe diskursanalytischer und transfergeschichtlicher Ansätze. Durch den historischen Vergleich zwischen dem nördlichen und südlichen Lateinamerika wird die Makroperspektive beibehalten und ermöglicht Aussagen über Effektivität und Legitimität verschiedener Strategien von Sicherheitsgovernance über Umbruchsituationen hinweg in Räumen mit einer vergleichbar komplexen ethnischen Zusammensetzung.

Bericht über die bisherige Entwicklung des Teilprojekts

In der ersten Phase fokussierte das Teilprojekt in Hinsicht auf die für das Gesamtvorhaben zentrale Perspektive der Analyse von Governance-Akteuren und Modi der Handlungskoordination vergleichend die Bedeutung verschiedener lokaler Akteure für die Einbeziehung indigener Gemeinschaften in die politischen Prozesse in Nordwestmexiko (Sonora) und im Süden Chiles (Araukania). Die Bedeutung kultureller Heterogenität für Colonial Governance wurde primär über folgende Fragestellungen herausgearbeitet:

 Wie konnte eine Beteiligung der indigenen Bevölkerung an den politischen Programmen erreicht werden?

Welche diskursiven Instrumente kamen zum Einsatz, um über Partizipation republikanische Herrschaft zu legitimieren und welche kulturellen Übersetzungsprozesse fanden dabei statt?

Welche Akteure waren an der Einbeziehung der indigenen Gruppen und der Implementierung republikanischer Werte beteiligt?

Die verwendeten Methoden der mikrohistorischen Forschung, der Diskursanalyse und des Vergleichs haben sich als nützliche Instrumente herausgestellt, um die fokussierten Governance-Formen und Akteure zu untersuchen. Der folgende Vorentwurf für eine Governance-Typologie in den untersuchten Fallstudien baut auf den ersten Auswertungen der seit Projektbeginn im Mai 2007 durchgeführten Archivrecherchen auf. Dabei haben sich Ähnlichkeiten und Unterschiede in den untersuchten Regionen aufzeigen lassen, die allgemeine Aussagen bezüglich Governance-Formen ebenso erlauben wie ihre Differenzierung nach den unterschiedlich gelagerten und historisch gewachsenen soziokulturellen Voraussetzungen. Wir werden daher die vergleichende Ebene auch im Folgeprojekt beibehalten. Im Hinblick auf die vier Dimensionen von Colonial Governance, die in Zusammenarbeit mit den historischen und rechtswissenschaftlichen Teilprojekten sowie mit den weiteren Projekten im Projektbereich B als Vergleichsmatrix entwickelt wurden, lassen sich zunächst folgende Ergebnisse zusammenfassen:

1. Akteure/Modi der Handlungskoordination: Es konnte festgestellt werden, dass sowohl in der späten Kolonialphase als auch in der frühen republikanischen Periode in beiden Regionen nichtstaatliche Akteure (Klerus), Akteure die teils im staatlichen Auftrag, teils als Private aktiv wurden und deshalb als „hybride“ Akteure bezeichnet werden können (Militärs) sowie vor allem die indigenen Akteure selbst (Kaziken, war leader) den wichtigsten Beitrag zur Integration lieferten, während staatliche Akteure (Beamte, Gouverneure, visitadores) nur selten eine Integrationsleistung erbringen konnten. Die Mechanismen der Einbeziehung sind grundsätzlich personengebunden und variierten daher je nach Akteurshintergrund. Die militärische Kooperation hat sich dabei als effektivster Mechanismus der Einbeziehung herausgestellt. Insgesamt konnte eine bedeutende Kontinuität von Akteuren und Governance-Modi über den Systembruch nach der Unabhängigkeit festgestellt werden.

2. Mehrebenencharakter von Colonial Governance: Hinsichtlich der Mehrebenenverschränkung ist zu bemerken, dass die peripheren Regionen Lateinamerikas weitestgehend unabhängig von der spanischen Krone bzw. dem administrativen Zentrum der Republiken regiert wurden, so dass staatliche Akteure in den meisten Fällen als regionale Potentaten bezeichnet werden müssen, deren familiäre Vernetzung in den untersuchten Gebieten ihre Rolle als Agenten des Staates aufweichte und einen entscheidenden Einfluss auf die Governance- Strukturen ausübte. Auf lokaler Ebene erhielt der Mehrebenencharakter von Governance hingegen eine zusätzliche Dimension, da hier die innerethnischen sozialen Organisationen von grundlegender Bedeutung für die Möglichkeiten „weicher“ Steuerung waren.

3. Bevölkerungsdichte und kulturell-ethnische Heterogenität: Die soziokulturellen Voraussetzungen (v.a. ethnische Pluralität) bedingten die zur Anwendung gekommenen Mechanismen der Einbeziehung maßgeblich. Die interethnischen Beziehungen in beiden Regionen haben sich dabei als grundsätzlich konfliktreich herausgestellt, so dass das Thema Sicherheit andere Governance-Leistungen in den Hintergrund drängte. Daher wird im Folgeprojekt die Governance-Leistung Sicherheit in den Mittelpunkt gestellt.

4. Weltsichten und Vorstellungen von guter Herrschaft: Anders als z.B. in China und ausgeprägter als in Nordamerika (vgl. D5 Leutner, C4 Lehmkuhl/Finzsch) wurde Herrschaft im Lateinamerika der Kolonialzeit primär von Input-Legitimierung im Sinne von Legitimität durch traditionelle Ordnungsmuster begründet (Gottesgnadentum, Königstreue). Auch nach der Unabhängigkeit versuchten die Republiken ihre Herrschaft gegenüber den indigenen Gemeinschaften vorwiegend über Input-Legitimität zu rechtfertigen (Wahlen, Patriotismus). Das Scheitern dieses Versuches bedingte jedoch gegen Ende des Untersuchungszeitraumes (1759- 1857, Mexiko, bzw. 1865, Chile) einen Wandel hin zur Output-Legitimität im Sinne von Legitimität durch Leistung, wobei die Governance-Leistung Sicherheit zum zentralen Argument für die Herrschaftsausübung der Eliten wurde. Der Bedeutung dieses langfristigen Prozesses wird durch die Fragestellungen des Folgeprojektes Rechung getragen.

Die Dissertationen der wissenschaftlichen Mitarbeitenden des Teilprojektes kontextualisieren die Governance-Formen anhand spezifischer Beispiele und fokussieren dabei sowohl konkrete Kollektive (Ethnien) als auch bestimmte Governance-Bereiche. Mónika Contréras Saiz untersucht in ihrer Dissertation die verschiedenen politischen Positionen der indigenen Gemeinschaften in der Araukania während der Unabhängigkeitsphase. Sie fokussiert dabei die Kontrolle des Handels durch die indigenen Gruppen und den „Verkauf“ von Sicherheitsleistungen und -garantien zwischen Indigenen und Siedlern. Das Dissertationsprojekt von Lasse Hölck untersucht das konfliktreiche Verhältnis einer egalitären Gesellschaft (der Cuncáac) zur Regierung von Sonora im Übergang von der Kolonialzeit zur Republik Mexiko (1770-1880). Dabei werden die Probleme der Inkompatibilität okzidentaler Vorstellungen von Zivilisation und Herrschaft mit der sozio-politischen Organisation und Subsistenzwirtschaftsweise nicht-okzidentaler Gesellschaften analysiert.

Hinsichtlich der Weiterführung des Teilprojektes ist die Bedeutung des Topos Sicherheit für die Legitimierung von Regieren herauszustellen. Die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung (tranquilidad pública) im Inneren und die Mobilisierung gegen äußere Feinde (nomadisierende Indianergruppen, nachbarstaatliche Invasionen) sind in ihrer Bedeutung ständig wachsende Elemente kolonialer wie postkolonialer Legitimierungsrhetorik. Zusammen mit der grundlegenden Bedeutung militärischer Kooperation stellen sie ein Kontinuum dar, dessen Auswirkungen auf Sicherheits-Governance in der zweiten Phase in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellt wird. Die im Vorgängerprojekt erzielten Ergebnisse zeigen, dass der Herstellung von Sicherheit als Governance-Leistung in Räumen begrenzter Staatlichkeit eine komplexe Akteurskonstellation zugrunde liegt, da Sicherheitsleistungen ohne direkte Einbeziehung der lokalen Bevölkerung (z.B. über Hilfstruppen, Bürgerwehren und Milizen) nicht dauerhaft und effektiv erbracht werden konnten. Daher fokussiert das Folgeprojekt die Untersuchungsbereiche Kollektive und soziokulturelle Voraussetzungen.

Geplante Weiterführung des Teilprojekts

Der Topos Sicherheit nimmt – das zeigen die Ergebnisse der ersten Förderphase - in den zivilen Legitimierungsdiskursen der Machthabenden einen entscheidenden Platz ein. Aufbauend auf dem Vorgängerprojekt untersucht das neue Teilprojekt daher die Entstehung von Sicherheitsgovernance in den Grenzräumen zwischen den – vermeintlich – konsolidierten Staaten Mexiko und den USA sowie zwischen Chile und Argentinien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Innere und äußere Sicherheit waren dort knappe Güter, weil die Bevölkerung starken Fluktuationen unterworfen war und weil die topografischen und humangeografischen Gegebenheiten genaue Grenzziehungen erschwerten, was zu Konflikten führte und die Herausbildung stabiler Staatlichkeit dauerhaft untergrub. Um die komplexen Vorgänge der Grenzsicherung mikrohistorisch fokussieren zu können, konzentriert sich die Untersuchung auf die Grenzräume im Nordwesten Mexikos (Chihuahua, Sonora/ Arizona, New Mexico) sowie Patagoniens  im Cono Sur (Chile/ Argentinien).

Forschungsziele und Leitfragen

Das Projekt wird die Herstellung von Sicherheit durch die Kooperation von staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren auf mehreren Ebenen hinsichtlich ihrer Effektivität und Problemgenerierung vergleichend untersuchen. Im Mittelpunkt stehen Governance- Transfers, etwa im Bereich des Rechts, und ihre lokalspezifische Umsetzung vor Ort. Damit trägt das TP zu den übergreifenden Fragestellungen des SFB nach Staatlichkeit als Kontextbedingung (z.B. Rechtsdurchsetzung) und lokalen Abwehr- und Aneignungsprozessen bei. Es wird zudem überprüft, welche erfolgreichen Governance-Modi aus der bereits untersuchten Phase übernommen wurden (historische Pfadabhängigkeiten) und ob eine  Entwicklung von der Produktion von Sicherheit als privatem Gut hin zu Sicherheits- Governance dabei erkenn­bar wird. Die Untersuchung konzentriert sich dazu auf die Verhandlungsprozesse zwischen staatlichen, nicht-staatlichen, „staatenlosen“[1], sowie „hybriden“[2] Akteuren auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene, die intentional auf die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der tranquilidad pública („öffentliche Ruhe und Ordnung“) ausgerichtet wa­ren. Dabei sollen Machtasymmetrien bei nicht-hierarchischen Modi der sozialen Handlungskoordination (vor allem: „weiche“ Steuerungsmechanismen durch Diskurse und Symbole, Steuerung durch Anreize bzw. „unbewaffnete“ Strategien der Konfliktbeilegung) herausgearbeitet werden. Die Analyse zielt dabei sowohl auf die Ebene der inneren als auch auf die der äußeren Si­cherheit. Im späten 19. Jahrhundert lassen sich diese Ebenen in den untersuchten Regionen kaum voneinander unterscheiden, sondern flossen ineinander. Unter Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Zentralstaat und lokalen Machtha­bern (Mehrebenen­problematik) wird sich das Projekt daher auf die Kollektive und die soziokulturellen Voraussetzungen von Sicherheitsgovernance konzentrieren.

 

a) Governance- Kollektive

Die Umsetzung des Forschungsvorhabens macht erstens eine Fortsetzung der Konzentration auf die Governance- Kollektive notwendig, die überwiegend eth­nisch konstituiert waren. Es wird herausgearbeitet,

1. welche intentionalen Versuche seitens der staatlichen Akteure zu verzeichnen sind, einen neuen Adressatenkreis für Governance zu schaffen (z.B. Mestizisierung, nation-building, Latifundienbil­dung) und

2. in Abgleichung mit den Ergebnissen der ersten Projektphase nach dem Innovationsgehalt dieser Versuche gefragt. Dadurch lassen sich sowohl das Konfliktpotential forcierter Kollektiv­wandel und –verschmelzungen als auch ihre Vorteile für die Effektivität und Legitimität von Sicherheitsgovernance genauer erkennen.

b) Soziokulturelle Voraussetzungen

Wie schon in der ersten Phase deutlich wurde, spielen die sozio-kulturellen Voraussetzungen der unterschiedlichen hier untersuchten Räume eine zentrale Rolle beim Verständnis der Governance-Prozesse. Das Teilprojekt baut hierbei auf der in der ersten Phase durchgeführten, systematischen Erfassung kultureller Heterogenität der untersuchten Grenzräume und auf der dadurch erzielten Erkenntnis ihrer zentralen Bedeutung für die Go­vernance-Strukturen in den untersuchten Räumen auf. Diese Ergebnisse werden in die angestrebte Typologisierung der Governance-Formen eingespeist. Insbesondere ist dabei zu klären, wie sich

1. der sozio-kulturelle Aspekt der Grenzziehung hinsichtlich lokaler Aneignungs- und Abwehrprozesse bemerkbar macht und

2. wie die um die Grenzlinien ansässigen indigenen Bevölkerungsgruppen auf die konkurrie­renden Staatlichkeiten reagierten. Dabei wird die übergreifende Fragestellung des SFB nach Staatlichkeit als Kontextbedingung adressiert und gezielt untersucht, ob die im Grenzgebiet konkurrierenden Staatlichkeiten einen doppelten „Schatten der Hierarchie“ werfen und wie sich diese Situation auf die Bereitschaft der Akteure, Governance- Leistungen im Sicherheitsbereich herzustellen, auswirkte.

In Lateinamerika wird die Erforschung historischer Prozesse an den Nationalgrenzen derzeit von der Frage nach dem Verhältnis der Peripherie zum Zentrum dominiert (Aboites 2008). In der neuesten Historiographie wird dabei u.a. die These vertreten, dass die Stabilität des kolonialzeitlichen Regie­rungssystems in Lateinamerika auf die freie Rechtsauslegung in den peripheren Gebieten zurückzuführen war (Guillet 2005; Langue 2005; Almada Bay 2008). Diese These wird im vorliegenden Projekt weiterentwickelt, denn mit der Konsolidierung von staatlicher Herrschaft in den Zentralen der jeweiligen lateinamerikanischen Staaten (Mexiko, Ar­gentinien, Chile) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden ältere Strukturen von Si­cherheitsgovernance in den betroffenen Grenzregionen grundsätzlich in Frage gestellt. Gleich­zeitig waren die Zentralstaaten aber nicht in der Lage, diese adäquat im Sinne einer herrschaftli­chen Steuerung zu ersetzen, was zur Delegitimierung staatlicher Herrschaft sowie zur Relegiti­mierung von Governance im Sinne nicht-hierarchischer Handlungskoordination unter Einbezie­hung transnationaler Akteure führte. Durch den Governance- Ansatz kann dabei die starke Konzentration auf den Nationalstaat und dessen Akteure, die die bisherigen Ansätze prägt, verlassen werden, ohne den Blick auf die zwischenstaatlichen und transnationalen Kooperationen in ihren gegenseitigen Beeinflussungen vollständig aufzugeben. Diese Herangehensweise verspricht spezielle Vorzüge für das Interesse des Teilprojektes an den sozio-kulturellen Voraus­setzungen und den Kollektiven von Governance, da die neu entstandenen Grenzlinien zumeist mitten durch die angestammten Lebensräume der indigenen Gruppen verliefen, die sich nicht auf Staatszugehörigkeiten festlegen ließen.

Die Konzentration auf Governance bietet somit einen viel versprechenden Ansatz, diese „Grenzen der Geschichtsschreibung“ zu überwinden und die untersuchten Regionen analytisch als Governance-Räume zu begreifen, zumal die staatliche Zu­gehörigkeit der Grenzregionen unklar blieb. Diese Perspektive lässt daher neue wichtige Erkenntnisse für die gemeinsame Geschichte der Anrainerstaaten und ihrer kulturell heterogenen Bevölkerungen erwarten.

Methoden und Operationalisierung

a) Mikrohistorischer Ansatz

Fortgesetzt wird der Einsatz mikrohistorischer Methoden, um die lokalen Konfliktfälle und ihre Lösungen historisch zu erfassen. Dabei evaluieren wir die Effektivität der Governance- Modi als Bewertungsprinzip durch einen Vergleich des angestrebten Zielzustandes (Soll) und des tatsächlich erreichten Zustandes oder eingetretenen Ereignisses (Ist- Zustand) (vgl. Rahmenantrag). Mit Hilfe des mikrohistorischen Ansatzes werden sich insbesondere die integrativen Governance-Modi sowie die präventiven und de-eskalierenden Maßnahmen untersuchen lassen. Der Geschichtswissenschaft verspricht diese Herangehensweise besonders wertvolle Erkenntnisse, da die Munizipalarchive der Fallstudienräume bislang nur wenig bis gar nicht konsultiert worden sind. Das Teilprojekt wird hier also Grundlagenforschung betreiben, auf der folgende Studien aufbauen können.

b) Diskursanalyse/ Bildanalyse

Die Fragestellungen des Projekts werden dabei komplementär durch eine Fokussierung “weicher“ Steue­rungsmechanismen wie der Steuerung durch Diskurse und Symbole auf lokaler Ebene unter­sucht. Dazu wird die Diskursanalyse mit der kulturanthropologischen Methode der Bildanalyse kombiniert, um die Beiträge verschiedener Medien wie Zeitungen, Mobilisierungsansprachen, öffentlicher Aushänge, Photographie, Flugblätter oder Erinnerungspolitik (Denkmäler der Grenzfestlegung) hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Rezeption des Sicherheitstopos auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene zu evaluieren. Die Mehrebe­nenproblematik wird sich so durch eine Konzentration auf die mit öffentlicher Sicherheit in Ver­bindung stehenden Topoi herausarbeiten lassen.

c) Transfergeschichte

Um das Beziehungsgeflecht zwischen internationalen, nationalen und regionalen Governance-Transfers (top-down) sowie die Übernahme und Fortführung autochthoner Konfliktvermeidungsstrategien (bottom-up) nachzuvollziehen, wird der Ansatz der Transfergeschichte (Conrad/Randeria 2002; Kaelble/Schriewer 2003; Middell 2000; Osterhammel 2001; Paulmann 1998; Werner/Zimmermann 2003) für dieses Projekt genutzt. Hierbei soll im Rahmen der nachbarstaatlichen Beziehungen und der relevanten internationalen Verflechtungen die Governance-Forschung für die Transfergeschichtsforschung fruchtbar gemacht werden und ihr theoretisches und methodisches Fundament aus der Governance-Perspektive überprüft und erweitert werden.

d) Begründung für die Fallauswahl

Die Fallstudien wurden aus folgenden Gründen ausgewählt: Die Regionen unterscheiden sich auf der Makroebene dahingehend, dass in Patagonien überwiegend Armeekräfte eingesetzt wurden, um eine Integration der Gebiete herbeizuführen, während im Nordwesten Mexikos indigene Hilfstruppen und kulturell heterogene Milizen das Gros der beteiligten Akteure darstellten. Der Vergleich der Fallstudien wird zeigen, inwiefern diese Makrostrategien zur Effektivität und Legitimität der Governance-Formen beitrugen. Die Regio­nen wurden weiterhin so gewählt, da sie von einer vergleichbar komplexen ethnischen Struktur geprägt sind, die im Vorgängerprojekt bereits erfasst worden ist. Sie bieten die Möglichkeit, eine breit gefächerte Varianz sozio-kultureller Voraussetzungen zu untersuchen, die sich etwa in den variablen Subsistenzwirtschaftweisen der sie bewohnenden Ethnien zeigt (sesshafte, agrikulturelle Gesellschaften, seminomadische Gesellschaften (Wildbeuter), nomadisierende indigene Gruppen (Reiternomaden, Hirtennomaden). Die bereits erfolgte Erfassung der kulturellen Heterogenität der Regionen durch das Vorgängerprojekt stellt dabei einen grundlegenden und aufwendigen Arbeits­schritt dar, der eine Konzentration des Folgeprojektes auf die neuen Fragestellungen erlaubt. Zudem ist in beiden Regionen hinsichtlich der Latifundienbildung ein ähnlicher Prozess des Kollektivwandels festzustellen, der vergleichende Perspektiven auf die Auswirkungen dieses Vorgangs ermöglicht.

Die historische Strukturierung des Untersuchungszeitraumes wird Aussagen über die Effektivität der verschiedenen Sicherheitsstrategien, ihren Beitrag zur Stabilität der Grenzregionen und ihre Dauerhaftigkeit über die Systembrüche hinweg zulassen. Da die militärische Kooperation sich in der ersten Projektphase als wichtigster Mechanismus der Einbeziehung für die indigenen Gemeinschaften herausgestellt hat, wird die Folgeuntersuchung dem im ersten Projektantrag formulierten Vorhaben einer Typologisierung der Governance-Formen in der zweiten Antragsphase dienlich sein. Als Teilfragestellung erhalten bleibt die Einbeziehung der indigenen Gruppen in das nationale Projekt zur Herstellung von Sicherheit, um die historischen Pfadabhängigkeiten für diesen Bereich nachzuvollziehen.

Operationalisierung

Durch die einzelnen Arbeitsschritte des Untersuchungsvorhabens sollen die Machtasymmetrien bei nicht-hierarchischen Modi der sozialen Handlungskoordination (vor allem: „weiche“ Steuerungsmechanismen durch Diskurse und Symbole, Steuerung durch Anreize) herausgearbeitet werden, um die Bedeutung der Mehrebenenverschränkung im Sicherheitsbereich gezielt zu untersuchen. Im Anschluss an die Datenerhebung lässt sich die Vorgehensweise wie folgt darstellen:

1. Herausarbeiten der relevanten Konfliktkonstellationen und -fälle auf lokaler Ebene (Mikrohistorische Methode)

2. Untersuchung der Problemlösungsstrategien der beteiligten Akteure auf lokaler Ebene und Evaluierung ihrer Effektivität (Mikrohistorische Methode)

3. Untersuchung der Grundlagen des Governance- Transfers durch Konzentration auf Governance- Modi und beteiligte Akteure (Transfergeschichtliche Ansätze)

4. Fokus­sierung der Konfliktlösungsstrategien auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene durch Konzentration auf die in den Schritt 1-3 herauspräparierten Governance- Transfers (top-down/ bottom-up) (Diskursanalyse, Bildanalyse) sowie ihrer Träger (Akteure)

5. Isolierung der Diskurse und Symbole sowie der darin erkennbaren zentralen Topoi und Analyse der Varianz hinsichtlich der sozio­kulturellen Voraussetzungen und Kollektive sowie ihrer Auswirkungen auf die Governance- Formen vor dem Hintergrund kultureller Heterogenität und in zeitlicher Perspektive über die Systembrüche hinweg (Diskursanalyse, Bildanalyse).

6. Untersuchung der isolierten Topoi (etwa tranquilidad pública, militärische Symbole etc.) und relevanten Akteure be­züglich ihrer gegenseitigen Beeinflussung zwischen den Politikebenen (Problem der Mehrebenenverschränkung) (Transfergeschichtliche Ansätze).

7. Vergleich der Ergebnisse von Schritt 1-6 zwischen den Fallstudien Mexiko/USA und Argentinien/Chile und Gewinn tragfähiger Aussagen zur Bedeutung der soziokulturellen Voraussetzungen und des Kollektivwandels (historischer Vergleich).

Arbeitsprogramm und Zeitplan

Im ersten Arbeitsschritt wird die theoretische Literatur mit Blick auf die hier interessierenden Fragen weiter ausgewertet und operationalisierbar gemacht. Hierfür werden die Monate Januar bis Dezember 2010 veranschlagt.

Im zweiten Arbeitsschritt werden systematisch Quellen erfasst. Dazu sind 2011/12 mehrmonatige Reisen nach Mexiko, Chile, Argentinien, England und in die USA notwendig.

Archive:

Mexiko: Archivo General de la Nación; Archivo Histórico Militar; Archivo “Genaro Estrada” (Relaciones Exteriores); Fototeca Pachuca; Munizipalarchive in Chihuahua (Chihuahua, Ciudad Juárez, Janos) und Sonora (Hermosillo, Fronteras).

 

Chile: Archivo Nacional, Archivo Histórico Militar, Archivo de los Capuchinos  (Santiago); Archivo Regional de la Araucanía (Temuco), Archivo Histórico Municipal de Osorno.

 

Argentinien: Archivo Nacional (Buenos Aires), Archivo del Reino de Salinas Grandes (Luján), Archivo de la Provincia de Mendoza, Archivo histórico municipal (Bariloche).

England: National Archives (London).

 

USA: Library of Congress, Washington; National Archives, Washington; Bancroft Library, Berkeley;  Nettie Lee Benson Library, Austin; University of New Mexico Library, Albuquerque; University of Arizona Library, Tucson.

Im dritten Arbeitsschritt werden Ergebnisse formuliert und auf internationalen Fachtagungen vorgetragen. Die weiter ausgearbeiteten Ergebnisse werden dann in Aufsatzform in wissen­schaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Neben der Erstellung von Dissertationen zu den beiden Fallbeispielen ist die Herausgabe eines Sammelbandes geplant.

Stellung innerhalb des Sonderforschungsbereichs

Das Teilprojekt leistet durch die Untersuchung von Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnissen auf lokaler Ebene einen Beitrag zum Gesamtvorhaben des SFB. Durch die Evaluierung der Effektivität der Governance- Formen zur Herstellung von Sicherheit unter Berücksichtigung lokaler Aneigungs- und Abwehrprozesse, auf die das Forschungsdesign abzielt, werden weitere zentrale Fragestellungen des SFB adressiert und hinsichtlich ihrer historischen Ausprägung analysiert. Dabei werden Ergebnisse erwartet, die einerseits einer Ausdifferenzierung des Governance- Konzeptes des SFB dienen, andererseits der geschichtswissenschaftlichen Forschung methodische Fortschritte bieten können. Die Untersuchung nachbarstaatlicher (Grenz-) Beziehungen und der Auswirkungen konkurrierender Staatlichkeiten auf Governance ermöglicht hierbei einen im SFB nur von diesem Teilprojekt fokussierten Teilaspekt der Frage nach Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance. Der zeitliche Anschluss an das Vorgängerprojekt verspricht schließlich wichtige Erkenntnisse aus der Perspektive der longue durée, die in die Diskussionen des SFB zur Entwicklung von der Produktion privater Güter hin zu Governance eingespeist werden.     

Das Teilprojekt verortet sich im Projektbereich C Sicherheit und wird durch sein komparativ und transnational angelegtes Forschungsdesign einen Beitrag zur methodischen Fragestellung des Projektbereiches liefern, der über die komplementäre historische Vertiefung hinausgeht. Die verstärkte Konzentration des C Bereiches auf Transferbeziehungen und Transfer-Leistungen stellt dabei einen wichtigen Fokus des Teilprojektes dar, wobei die vergleichende Analyse von bottom-up und top-down Prozessen insbesondere eine Kooperation mit den Teilprojekten C2 Chojnacki und C7 Schneckener ermöglicht. Angesichts des von Systembrüchen geprägten  Untersuchungszeitraums werden die zu erwartenden Ergebnisse eine lineare Betrachtung von Governance- Prozessen zu relativieren helfen. Das Teilprojekt profitiert seinerseits von der in allen Projekten des C- Bereiches zentralen Fokussierung komplexer Akteurskonstellationen von Governance- Strukturen, so dass der Austausch mit den anderen Projekten einer analytischen Schärfung der anvisierten Untersuchung von Kollektiven und soziokulturellen Voraussetzung von Governance Vorschub leisten wird.

Mit den historischen Teilprojekten verbindet uns das Interesse an transitorischen Governance- Prozessen in Übergangsgesellschaften. Hierbei ermöglicht insbesondere die geografische und inhaltliche Ergänzung zum TP C4/ B3 Lehmkuhl /Finzsch einen Vergleich der Makrostrategie von „Zivilisierungspolitik“ (in Lateinamerika) und dem Siedlerimperialismus in Nord­amerika/ Australien in Bezug auf die jeweili­gen Konsequenzen für die Verhandlungsprozesse auf der Mikroebene. Die primäre Fragestellung nach soziokulturellen Voraussetzungen (ethn. Pluralität) von Governance sowie die Teilfragestellungen nach der Delegation von Hoheitsrechten und juristisch verklausulierten Governance- Transfers hat das TP zudem mit dem TP B10 Esders gemein, was einen interessanten Vergleich von räumlich wie zeitlich weit auseinander liegenden Gesellschaften ermöglicht und in Zusammenarbeit mit den Projekten B7/ A3 Schuppert und B9/ A5 Ladwig neue Erkenntnisse hinsichtlich normativer Grundlagen von Governance und der Bedeutung von Rechtspluralismus in Räumen begrenzter Staatlichkeit erwarten lässt.



[1]     Als „staatenlose“ Akteure werden die nomadisierenden indigenen Gruppen in den Grenzgebieten (z.B. Apachen oder Pehuenche) aufgefasst.

[2]     Im Zusammenhang mit den untersuchten Akteuren verstehen wir unter „hybriden“ Akteuren jene, die sowohl in eine Verpflichtung dem Staat gegenüber als auch in private, z.B. familiäre Strukturen eingebunden waren und somit einen Interessenausgleich herstellen mussten.