Forschungsziele der zweiten Förderphase
Das Teilprojekt fragt nach den Konsequenzen, die sich aus den Besonderheiten von Räumen begrenzter Staatlichkeit für die Rule of Law ergeben. Ausgehend von dem offenbar zunehmenden Prozess der Entstaatlichung der Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung und unter Heranziehung rechts- und sozialwissenschaftlicher Literaturen über die Funktion, die Entstehung und die Wirkungsweisen nicht-staatlicher Normordnungen geht es v. a. um zwei Fragen:
(1) Wie entstehen legitime und sichere Normordnungen jenseits des Staates und wie lösen sie die im Zuge der Pluralisierung der Normsetzung und -durchsetzung zu erwartenden Normkonflikte? (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance)
(2) Wie lässt sich – unter dem Gesichtspunkt der funktionalen Äquivalenz – das Verhältnis der unterschiedlichen Regelungssysteme zueinander analytisch erfassen? Und inwieweit bedürfen legitime und sichere nicht-staatliche Regelungsstrukturen eines „Schattens des staatlichen Rechts“? (à SFB-Ziel 2: Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance)
Zur Beantwortung dieser Fragen untersucht das Teilprojekt in der zweiten Phase des SFB legitime und sichere Normordnungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit und ihre institutionellen Voraussetzungen. Hierzu wird das Teilprojekt insbesondere den Zusammenhang zwischen nicht-staatlichen, im Wege der Selbstregulierung entstandenen Normordnungen und den Bedingungen effektiver Selbstregulierungsformen in den Blick nehmen. Wir werden dabei in vier Schritten vorgehen:
(1) Ausgangspunkt ist wiederum die Rule of Law als Grundlage und Leistung von Governance.
(2) Besondere Herausforderungen für das Recht ergeben sich aus den Entstaatlichungs- und Entterritorialisierungsprozessen.
(3) Zu fragen ist nach funktionsäquivalenten normativen Strukturen in Räumen begrenzter Staatlichkeit, wobei die Frage nach dem Staat als Kontextbedingung und die Frage nach dem Umgang mit normativer Pluralität, die aus dem Nebeneinander verschiedener, oft konkurrierender Selbstregulierungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit herrührt, besonders im Mittelpunkt steht.
(4) Forschungsfragen ergeben sich insbesondere mit Blick auf religiöse und kulturell bedingte Einflüsse und importierte bzw. transplantierte Rechte (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit).
(1) Rechts-Staatlichkeit
Ist mit den Ergebnissen des Teilprojektes aus der ersten Förderphase des SFB davon auszugehen, dass die beiden zentralen Governance-Leistungen von Rechtsstaatlichkeit erstens die Generierung von Erwartungs- und Rechtssicherheit und zweitens die Bereitstellung von Mechanismen und Verfahren nicht-gewaltsamer Konfliktaustragung sind, dann ist gerade im Hinblick auf Räume begrenzter Staatlichkeit genauer zu untersuchen, welche Akteure sich dort wie und auf welcher Grundlage koordinieren, dass diese Leistungen erbracht werden und welchen normativen Inhalts diese sind (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination und Machtverhältnisse).
Die genannten Leistungen zu erbringen, ist in Räumen funktionierender Staatlichkeit Aufgabe der staatlichen, auf ein bestimmtes, abgrenzbares Territorium bezogenen Rechtsordnung (Staatlichkeit und Territorialität des Rechts). In Räumen begrenzter Staatlichkeit sind diese rechtsstaatlichen Governance-Leistungen nicht nur defizitär, sondern sie waren und sind als „staatliche Veranstaltungen“ überhaupt nicht „im Angebot“ oder – wenn ja – nur als Clubgüter für Angehörige einer bestimmten, die Machthaber stützenden Klientel. Dieser Sachverhalt ist etwa für afrikanische Länder bereits relativ gut beforscht (von Trotha 2003) (à SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zur Bereitstellung von Governance).
Bevor die Konsequenzen dieses Befundes geprüft werden, ist in einem Zwischenschritt im Sinne des zweiten SFB-Ziels „Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance“ zu untersuchen, was aus der Diskussion über Entstaatlichungs- und Entterritorialisierungsprozesse politischer Herrschaft zu lernen ist. Hierfür sind in der ersten Projektphase schon weitgehende Vorarbeiten geleistet worden.
(2) Entstaatlichungs- und Entterritorialisierungsprozesse politischer Herrschaft und ihre Konsequenzen für das Recht: Lessons to Learn
In der vielfältigen Literatur zu Entstaatlichungs- und Entterritorialisierungsprozessen politischer Herrschaft und ihre Konsequenzen für das Recht lassen sich drei „Diskursfamilien“ unterscheiden, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichem Erkenntnishorizont jeweils einzelnen Fragen aus dem Gesamtkomplex annähern und deren Rezeption in unterschiedlichem Maße Gewinn für das Verständnis von Rule of Law in Räumen begrenzter Staatlichkeit verspricht:
(a) Globales bzw. transnationales Recht
Die beobachtbaren Prozesse der Entstaatlichung und Entterritorialisierung politischer Herrschaft werden hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die Praxis und Theorie des Rechts zunehmend auch in der juristischen Zunft diskutiert. In den letzten zehn Jahren hat sich ein globaler Diskurs über globales bzw. über transnationales Recht herausgebildet, an dem Rechts- und Sozialwissenschaftler aus der ganzen Welt partizipieren und der in dieser Weise kein historisches Vorbild hat. Die Debatten zu Lex Mercatoria, Transnational Law, Global Law, Global Administrative Law, Fragmentation and De-fragmentation of International Law und Transnational Networks of Legal Institutions lassen sich dabei als Stränge ein und desselben Diskurses zum Recht der globalisierten Gesellschaft verstehen.
Unterscheiden lassen sich hier insbesondere drei (Teil-) Diskurse:
- Einmal geht es um die Frage der Vorstellbarkeit eines globalen, nicht-staatlichen Rechts als Antwort auf das allgemeine Phänomen der Globalisierung (Cassese 2006).
- Zweitens geht es um die zunehmend reklamierte Emergenz einer neuen Art von nicht-staatlichem Recht in Gestalt eines sog. Transnationalen Rechts, das sich jenseits des Nationalstaates herausbildet (Stichworte: lex mercatoria, lex electronica, lex sportiva; Fischer-Lescano/Teubner 2006).
- Drittens schließlich geht es um das Entstehen neuer Rechtsgebiete, nämlich eines internationalen Verwaltungsrechts und eines Verfassungsrechts jenseits des Nationalstaates (s. dazu die am Wissenschaftskolleg Berlin eingesetzte Schwerpunktgruppe „Verfassung jenseits des Nationalstaates“; Kingsbury et al. 2005; von Bogdandy et al. 2008; Schmidt-Aßmann 2008).
Diese Diskurse sind eher rechtstheoretischer Natur. Sie kreisen v. a. um die Frage, inwieweit das Recht und sein Paradestück – die Verfassung – als vom Staat losgelöst oder entkoppelt gedacht werden können (graduelle Entkopplung von Staat und Recht). Für die Untersuchung von Recht(-staatlichkeit) in Räumen begrenzter Staatlichkeit sind diese Debatten äußerst hilfreich, bilden sie doch ein Laboratorium für die Plausibilisierung von rechtlichen Konzepten ohne die staatliche Durchsetzungsmacht.
(b) Internationalisierung von Rechtsstaatlichkeit
Die zweite Diskursarena kommt aus der Governanceforschung und beschäftigt sich mit der Internationalisierung von Rechtsstaatlichkeit im Sinne einer Justizialisierung von Konflikten wie etwa im Rahmen internationaler Organisationen wie der WTO (Zangl 2006), sowie Prozessen der Verrechtlichung als Bausteinen von Global Governance (Zangl/Zürn 2004).
Dieser Diskussionsstrang hat einen anderen Fokus als der der Forschung über Räume begrenzter Staatlichkeit. Dennoch lassen sich die Ergebnisse in begrenztem Rahmen fruchtbar machen, soweit (1) eine über lokale bzw. nationale Kontexte hinausgehende Verständigung über den normativen Gehalt der Rule of Law festgestellt wird und damit (2) ein transnationales Verständnis verfassungsrechtlicher Institutionen ermittelt wird, das über Transfer- und Aneignungsprozesse Eingang in nationale und lokale Diskurse über Rule of Law findet (à SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit).
(c) Potentiale gesellschaftlicher Selbstregelung
Eine dritte Diskursarena schließlich beschäftigt sich mit den Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Regelsetzung und – damit häufig verbunden – mit Governance-Leistungen der Zivilgesellschaft. In dieser Diskussion über die Potentiale gesellschaftlicher Selbstregelung stehen drei Probleme im Mittelpunkt, die auch für die Erforschung von Räumen begrenzter Staatlichkeit von großer Bedeutung sein könnten:
- Einmal geht es um die Ermittlung und Bestimmung derjenigen Kollektive, die für sich eigene Regelungen aufstellen und diese in unterschiedlichem Maße institutionalisieren: dies ist die Frage nach den Normproduzenten.
- Zweitens geht es um die Frage, warum dieses selbstregulative Recht von den Adressaten befolgt wird (compliance) und wie und von wem diese Befolgung gewährleistet wird: dies ist die Frage nach den Bedingungen effektiver Selbstregulierung.
- Drittens geht es um die Frage, ob und in welchem Umfang für die Funktionsfähigkeit von Selbstregulierung eine staatliche Rahmenordnung, ein „shadow of the law“ oder der Staat als Akteur mit Auffangverantwortung erforderlich sind (Idee der „embedded self-regulation“). Vor allem an diese Diskussionen gilt es anzuknüpfen und sie für die Erforschung der Räume begrenzter Staatlichkeit fruchtbar zu machen. Denn ohne den Staat als Normmonopolisten für alle Mitglieder eines Kollektivs lässt sich immer nur eine Pluralität von – regelmäßig funktional begründeten – Selbstregulationsordnungen feststellen, deren Entstehung und Stabilität wiederum auf zu untersuchenden institutionellen Voraussetzungen beruht (à SFB-Ziel 2: Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance; SFB-Ziel 5: Von der Produktion privater Güter zur Bereitstellung von Governance).
(3) Funktionsäquivalente Normenarten und Normproduzenten bzw. Streitschlichtungsmechanismen in Räumen begrenzter Staatlichkeit
Ausgehend von der Diskussion über die Voraussetzungen einer funktionsfähigen gesellschaftlichen Selbstregulierung sind für die Räume begrenzter Staatlichkeit die folgenden drei Fragen in den Mittelpunkt zu stellen, die mit den empirischen Teilprojekten gemeinsam zu vertiefen sind:
(a) Welche Kollektive kommen als Regelungsgemeinschaften in Betracht, die die Governance-Leistungen der Generierung von Erwartungssicherheit und der Bereitstellung von Konfliktlösungsverfahren erbringen? Welche Arten von Regelungen stehen dabei im Vordergrund? Welche sozialen Substrate (Netzwerke, Religionsgemeinschaften, Stämme und Sippen, Großfamilien, lokale Autoritäten) übernehmen die Funktion, die Befolgung der Regeln zu reklamieren und gegebenenfalls zu sanktionieren?
(b) Wie verhalten sich die selbstgesetzten Normenordnungen zum staatlichen Recht und gibt es eine Funktionenteilung zwischen nicht-staatlichem Recht und nicht-staatlichen Normunternehmern auf der einen Seite und staatlichen Rechtsinstanzen auf der anderen Seite?
(c) Wie werden Normenkollisionen und andere zwischen nicht-staatlichen Regelsystemen entstehende normative Konflikte bewältigt, wenn und soweit weder der Staat noch ein ihm vergleichbarer Akteur eine Monopolstellung bei der Regel(durch)setzung inne hat.
In aller Vorläufigkeit können zu diesen für die weitere Arbeit des Teilprojekts zentralen Fragen folgende erste Überlegungen zu den zu erwartenden Ergebnissen präsentiert werden:
(a) Kollektive
Was die in Betracht kommenden Kollektive angeht, so scheinen die in der Literatur zum „private ordering“ untersuchten Kollektive – Diamantenhändler in New York, Baumwollhändler in Memphis und Farmer in Shasta County (vgl. Ipsen 2008) – für Räume begrenzter Staatlichkeit unergiebig zu sein. Dies gilt aber nur auf den ersten Blick. Lehrreich ist ein zweiter Blick auf das Beispiel der New Yorker jüdischen Diamantenhändler, die im New Yorker Diamond Dealers Club (DDC) zusammengeschlossen sind und die ihren geschäftlichen Transaktionen selbstgesetzte Regeln zugrunde legen, über deren Einhaltung der Club wacht, indem er über das Geschäftsgebaren seiner Mitglieder regelmäßig informiert, dadurch über deren Reputation mitentscheidet und – bei andauerndem und signifikantem Reputationsverlust – letztlich eine Ausschlussdrohung ausspricht. Die Literatur spricht anschaulich von einem „reputation-based rule enforcement“, eine Formulierung, die dazu einlädt, diese Art der Normdurchsetzung in generalisierender Weise zu einem eigenen Typus von Governance zu verdichten und in solchen unvergleichbaren Fällen von „governance by reputation“ zu sprechen. Ein solcher Governance-Modus setzt offenbar zwei Dinge voraus: einmal einen funktionierenden Informationsaustausch über das Geschäftsgebaren bestimmter Personen und zweitens die Existenz einer sozialen Gruppe oder eines sozialen Netzwerkes, für die die Reputation ihrer Mitglieder wichtig ist; solche sozialen Gruppen wollen wir Reputationsgemeinschaften nennen.
Solche Reputationsgemeinschaften müssen nicht nur ökonomisch-berufsständische sein, obwohl sie hier – wie früher bei Zünften oder Gilden – besonders gut funktionieren. Wie aber gerade das Beispiel der jüdischen Diamantenhändler zeigt, bei denen die Befolgung der Regeln durch eine enge Verquickung mit der jüdischen Gemeinde erreicht wird, kommen als Reputationsgemeinschaften auch und gerade religiöse Gemeinschaften in Betracht. Weiter kann man – wie das Beispiel des Schadensersatzes zeigt, der von einer Sippe oder Gruppe für die Missetaten eines individuellen Angehörigen zu zahlen ist – an Reputationsgemeinschaften denken, die auf Verwandtschaft oder gemeinsamer ethnischer Herkunft beruhen. Die ethnologische Forschung muss hierzu noch weiter befragt werden.
Was den Zusammenhang von „reputation-based rule enforcement“ und die sozialen Substrate angeht, so verhält es sich nach den vorliegenden Fallstudien offenbar so, dass sich in einem funktionierenden nicht-staatlichen Normensystem Normenordnung und soziales Netzwerk einander gegenseitig bedingen. Während das soziale Netzwerk die Befolgung der Normenordnung sicherstellt, wird durch die Existenz dieser Normenordnung gewährleistet, dass Konflikte auch ohne die staatliche Justiz entschieden werden können. Wie in der „private ordering“-Literatur herausgearbeitet worden ist, bilden sich private Normenordnungen nicht aus dem Nichts heraus oder irgendwie „spontan“, sondern sie bauen auf eine bereits existierende institutionelle Infrastruktur auf. Die immer wieder genannten Beispiele für religiöse und soziale Netzwerke sind die Pax Dei-Bewegung und die deutsche Hanse (vgl. Schuppert 2008c). Solche sozialen und/oder religiösen Netzwerke erfüllen in ihrer „Frühphase“ nur Funktionen mit niedrigen Durchsetzungskosten, legen aber an Regulierungsintensität zu, je stabiler sie sich erweisen und je größer der Regulierungsbedarf ist. Voraussetzung für das Entstehen einer solchen privaten Normenordnung ist aber stets, dass eine netzwerkartig abbildbare homogene Gruppe existiert, eine close-knit Gemeinschaft, die durch ähnliche Überzeugungen und Werte miteinander verbunden ist. Aus diesem Befund ist zu lernen, dass das Entstehen nicht-staatlicher Normensysteme in aller Regel die Existenz sozialer bzw. religiöser Netzwerke voraussetzt, die mittels dieser institutionellen Infrastruktur in der Lage sind, durch den Governance-Modus des „reputation-based rule enforcement“ das Verhalten ihrer Mitglieder ziemlich effektiv zu steuern. Es ist mehr als einladend, diese Einsichten für Räume begrenzter Staatlichkeit fruchtbar zu machen (à SFB-Ziel 1: Modi der Handlungskoordination).
(b) Verhältnis von selbstgesetzten Normordnungen zum staatlichen Recht
Was das Verhältnis von selbstgesetzten Normenordnungen zum staatlichen Recht angeht, so kann hier das zunehmend diskutierte Verhältnis des sogenannten transnationalen Rechts zur staatlichen Rechtsetzung als gedankliche Hilfestellung dienen (vgl. B8 Rudolf). Nach der neueren Untersuchung von Nils Ipsen (2008) kommen im Verhältnis zu diesen nicht-staatlichen Normenordnungen drei Rollen des Staates in Betracht, nämlich
- der Staat als Modell,
- der Staat als Profiteur sowie
- der Staat als Garant.
Was es nahelegt, vom Staat als Modell zu sprechen, ist die Beobachtung, dass der Staat bzw. das staatliche Recht den privaten Normenordnungen in doppelter Hinsicht als Vorbild dient. Zum einen orientieren sie sich beim materiellen Gehalt an bestehenden staatlichen Vorschriften – entweder freiwillig oder auch infolge staatlichen Drucks – zum anderen lehnen sich auch die Verfahren zur Normerzeugung oder der Schiedsgerichtsbarkeit häufig an staatliche Verfahren an. Diese Beobachtung gilt übrigens auch für den Bereich der internationalen Standardsetzung, auf den später noch einzugehen sein wird.
Den Staat als Profiteur zu bezeichnen, findet seine Berechtigung in der Überlegung, dass der Staat gerade im transnationalen Raum die Begrenztheit seiner eigenen nationalen Regelungsmöglichkeiten erfahren und daher nach anderweitigen Regelungsoptionen Ausschau halten muss; eine solche Option ist angesichts eines fehlenden Weltstaates oder anderer internationaler Regelungsinstanzen die Respektierung privater Selbst-Regulierung und damit die Nutzung der Normbildungskompetenz gesellschaftlicher Subsysteme zur Kompensation der eigenen regulatorischen Überforderung. Das ist die erste Variante. Die zweite Variante der Rolle des Staates als Profiteur ist vielleicht noch spannender: es ist die Nutzung der privaten Normenordnungen als Platzhalter für staatliches Recht, eine Konstruktion, die es dem Staat einerseits ermöglicht, die gesellschaftlichen Regelungspotentiale zu nutzen, ihm aber andererseits die Möglichkeit eines eigenen regulatorischen Zugriffs offenhält, wenn die in Rede stehenden Regelungskomplexe an gesellschaftlicher und/oder politischer Relevanz deutlich zunehmen.
Die dritte Rolle des Staates gegenüber transnationalen Normenordnungen ist die des Garanten. Er garantiert den Bürgern, dass auch in solchen transnationalen Normenordnungen ihre wesentlichen Rechte beachtet werden. Das hier ins Spiel kommende Staatsbild des Gewährleistungsstaates verpflichtet den Staat, mit seiner Rechtsordnung als eine Art Auffangnetz bereitzustehen.
(c) Bewältigung von normativen Widersprüchen und Normenkollisionen
Was die Bewältigung von normativen Widersprüchen und Normenkollisionen in Kontexten angeht, in denen weder dem Staat noch einem ihm vergleichbaren Akteur eine Monopolstellung bei der Regelsetzung und -durchsetzung zukommt, ist der Blick v. a. auf solche Kollisionsregime und prozedurale Mechanismen zu richten, die von einem pluralen Ansatz ausgehen und den verschiedenen konkurrierenden Normordnungen ihren Geltungsanspruch nicht grundsätzlich absprechen. Anstelle von Einheitslösungen dürften auf Differenzierungs- und Optimierungsansätzen beruhende Kollisionsregime – wie bspw. die Anerkennung von Beurteilungsspielräumen, Autonomie- und Subsidiaritätsregime oder „Safe-Harbour-Vereinbarungen“ (Berman 2006) – eine größere Legitimität und Effektivität und in der Folge mehr Rechtssicherheit versprechen.
(4) Religiöse und kulturelle Einflüsse und importierte bzw. transplantierte Rechte
Damit kommen wir zu folgender weiteren Fragestellung und Fallauswahl. Auch wenn all dies auf die Verhältnisse in Räumen begrenzter Staatlichkeit nicht direkt passt, besteht doch in diesen Überlegungen ein erster und weiterführender Ansatzpunkt, um sich über das Rollenverhältnis von staatlichem und nicht-staatlichem Recht in verschiedenen kulturell und historisch sich wandelnden Kontexten, besonders in post-kolonialen oder islamischen Staaten zu vergewissern:
- Die Rechtsordnungen in den islamisch geprägten Gesellschaften weisen oftmals eine besonders enge Verknüpfung zwischen religiösen und staatlich sanktionierten Normen auf, die – wie bspw. die Verfassung von Afghanistan zeigt – keineswegs widerspruchsfrei ist. So entsteht eine Überlappung, deren Analyse zu einem besseren Verständnis der Normenentstehung in Räumen begrenzter Staatlichkeit beitragen dürfte.
- In den post-kolonialen Räumen lässt sich die historische Anlagerung immer neuer Schichten von Recht und äquivalenten Normen nachvollziehen, die von normativer Pluralität geprägte Regelungsstrukturen ausgebildet haben, in denen Rechtsimporte ebenso wie selbst-generierte Normen ganz eigene und oft überraschende Dynamiken entfalten. Die Empirie zu diesen Räumen wird eine enge Abstimmung mit den empirischen Teilprojekten des SFB erbringen.
Methoden und Operationalisierung
Wie bisher wird die Forschungstätigkeit im Teilprojekt methodisch vom Zugriff der Verfassungsrechtswissenschaft und zunehmend auch von rechtstheoretischen Fragestellungen geprägt sein. Geplant ist jedoch eine insgesamt nicht unbeträchtliche Akzentverlagerung durch eine Erweiterung der disziplinären Perspektive, und zwar in dreierlei Richtungen:
(1) Unverzichtbar ist zunächst die Einbeziehung der Religionswissenschaft und insbesondere der Islamwissenschaft, um sich über die maßgebliche Rolle nicht-staatlicher, religiös fundierter Rechtsvorstellungen zu vergewissern. Denn nicht nur gibt es die Erfahrung, dass westliches Verfassungsdenken, zu dessen Kern das Rechtsstaatsprinzip ja gehört, auf den islamischen Rechtskreis trifft, ein Aufeinandertreffen, das nicht nur die Frage aufwirft „Is Constitutionalism Compatible with Islam?“ (Bahlul 2007), sondern auch zeigt, dass Rechtsstaatsverständnisse Bestandteil der jeweiligen Rechtskultur des Landes oder in Rede stehenden Region sind, was in der Rechtsanwendungspraxis durch islamisch ausgebildete Richter zu erheblichen Verwerfungen führt (dazu Röder 2009). Darüber hinaus ist die religionswissenschaftliche Perspektive auch für die Frage der in Betracht kommenden „Rechtsstaatlichkeitsakteure“ von entscheidender Bedeutung, wie die Rolle von mobilen Sharia-Gerichten in Somalia als „Produzenten von Rechtsstaatlichkeit“ zeigt. Mit anderen Worten: ohne Kenntnisse etwa des islamischen Rechts und seines funktional äquivalenten Rechtsstaatsverständnisses ist für weite Bereiche von Räumen begrenzter Staatlichkeit nicht auszukommen.
(2) Die hiermit schon angesprochene „cultural embeddedness“ der Rule of Law-Prinzipien lässt es unter dem Gesichtspunkt der „Reisefähigkeit“ von Governance-Konzeptionen (Risse 2007) zweitens als unverzichtbar erscheinen, nach den Transfer-Bedingungen des Rule of Law-Konzepts zu fragen und dafür die Erkenntnisse der sog. Transfer-Forschung fruchtbar zu machen. Dazu gehört nicht nur die Frage nach der prinzipiellen Reisefähigkeit von Recht (Legrand 1987; Xanthaki 2008), sondern auch die Frage nach den Transferbedingungen und den Erfolgsaussichten solcher „cultural crossing“ Transfers (Westney 1987; Larmour 2005; De La Rosa 2008). Die bisher vorliegenden Erfahrungen zur Im- bzw. Transplantation von Rechtsprinzipien und zu „Rechtstransfers in der Geschichte“ (Duss u.a. 2006) gilt es dafür genauer auszuwerten. Ein Berührungspunkt besteht hierbei zum beantragten Teilprojekt von Stefan Esders (B10 Esders), der die Veränderung von Normen in der Transformation im Frühmittelalter untersucht.
Die gefundenen Ergebnisse zu den Transferbedingungen von Rule of Law-Prinzipien werden auch nicht ohne Auswirkungen auf das Rechtsstaatsverständnis selbst bleiben können. Wie die internationale Diskussion über Sinn und Erfolgsaussichten der „Promotion of Rule of Law Abroad“ (Carothers 2006) gezeigt hat, ist die Diskussion darüber unausweichlich, ob für den internationalen Rule of Law-Diskurs eher eine „thinner conception“ von Rule of Law angemessen ist, die mehr die formalen Tugenden des Rechtsstaates betont oder eine „thicker conception“ mit einem stark inhaltlich-normativen Rechtsstaatsverständnis, das vor allem den Schutz der Menschenrechte betont (dazu Kleinfeld 2006; Krygier 2006, 2009).
(3) Drittens schließlich erscheint auch eine stärkere Einbeziehung des Faches der (Rechts-) Ethnologie dringend erforderlich. Wie schon mehrfach im Antragstext angesprochen, haben wir es in zahlreichen Gegenden begrenzter Staatlichkeit mit verschiedenen Varianten des Rechtspluralismus zu tun (Waldmann 2005), was für das Teilprojekt B7 notwendig bedeutet, sich auf das Problem, „Normative Pluralität [zu] ordnen“ (Kötter/Schuppert 2009) einlassen zu müssen. Dies setzt nicht nur ein Grundverständnis des Phänomens des Rechtspluralismus voraus (dazu von Benda Beckmann 1994, 2009; Berman 2006), sondern eine genauere Beschäftigung mit der Funktionslogik normativer Pluralität, etwa in den Ländern Lateinamerikas (dazu Valdés 2005; Gabbert 2005).
Arbeitsprogramm und Zeitplan
Die unter dem vorigen Gliederungspunkt selbst auferlegte Erweiterung der disziplinären Perspektive hat die Notwendigkeit zur Folge, diese Perspektivenerweiterung zu organisieren und an ausgesuchten Problemfeldern und beispielhaft ausgewählten Gegenden begrenzter Staatlichkeit zu verdeutlichen. Dazu sind die folgenden Arbeitsschritte vorgesehen:
(1) Zu beginnen ist mit der Untersuchung der Probleme des Aufeinandertreffens des von westlicher Verfassungsstaatlichkeit geprägten Rule of Law-Verständnisses mit dem Rechtsverständnis des Islam. Die dabei auftretenden Probleme sollen am Beispiel Afghanistans näher untersucht werden, da wir hierbei auf die vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht gemachten Erfahrungen des Transfers westlichen Verfassungsdenkens nach Afghanistan aufbauen können; eine entsprechende Kooperationsbeziehung besteht bereits (Röder 2009) und soll ausgebaut werden. Zur Ausleuchtung des generellen Hintergrunds religiös fundierter Rechtsordnungen am Beispiel des Islam ist eine Zusammenarbeit mit der Berliner Historikerin und Religionswissenschaftlerin Gudrun Krämer (FU Berlin) vorgesehen und bereits angesprochen. Innerhalb des SFB wird ein engerer Austausch mit dem Teilprojekt C1 Zürcher angestrebt. Das Förderungsjahr 2010 soll mit einem Workshop zu diesem Bereich der disziplinären Perspektivenerweiterung beginnen.
(2) Parallel dazu, aber weiter in das zweite Antragsjahr reichend, geht es um die Bedingungen und die Erfolgsaussichten des Transfers von Rule of Law-Prinzipien. Hierbei soll eine engere Kooperation mit dem „The Hague Institute for the Internationalization of Law (HIIL)“ aufgebaut werden, das sich in besonderer Weise mit dem internationalen Rule of Law-Diskurs beschäftigt hat (HIIL 2007) und beschäftigt und dabei insbesondere die Probleme der Konzeptualisierung von Rechtstaatlichkeit unter den Bedingungen der Globalisierung in den Mittelpunkt stellt (Stichworte: thicker or thinner conception of the rule of law). Ein Kooperationsverhältnis zum HIIL ist bereits ins Werk gesetzt: der Projektleiter ist sowohl Mitglied des vom HIIL aufgebauten Rule of Law-Networks sowie des Editorial Board des im Erscheinen begriffenen „The Hague Journal of Rule of Law“. Ein weiteres Kooperationsverhältnis besteht mit dem „WZB Rule of Law Center“, das seit dem 1.7.2008 am Wissenschaftszentrum Berlin existiert und dem der Teilprojektleiter ebenfalls angehört. Mit beiden Kooperationspartnern werden gemeinsame Workshops angestrebt, die in der zweiten Hälfte 2010 und der ersten Hälfte 2011 stattfinden sollen.
(3) Was schließlich den Bereich der (Rechts-)Ethnologie angeht, so sind zweierlei Forschungsvorhaben geplant. Einmal geht es um die Herstellung einer Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für Anthropologie und Ethnologie in Halle, mit dessen Ko-Direktor Franz von Benda Beckmann seit kurzem bereits eine Austauschbeziehung besteht. Zum anderen geht es um eine exemplarische Erkundung von Räumen begrenzter Staatlichkeit als Räume mit normativer Pluralität: In Betracht kommen hier Länder Südamerikas, da an ihnen das Nebeneinander von Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Rechtstradition besonders gut studiert werden kann und zudem Anknüpfungspunkte an diejenigen Teilprojekte des SFB bestehen, die sich mit den Verhältnissen in Argentinien und Mexiko beschäftigen (C3 Braig/Maihold). Auch in diesem Bereich sind zwei Workshops geplant, und zwar für die zweite Hälfte 2011 und die erste Hälfte 2012.
(4) Das abschließende vierte Jahr wird einmal im Zeichen der Ergebnissicherung stehen, zum anderen soll eine eigenständige Konzeptualisierung von Rule of Law als Governance-Ressource in Räumen begrenzter Staatlichkeit vorgestellt werden, die sich nicht nur aus dem Denken der westlichen Verfassungstradition speist, sondern eine globale, kulturell informierte und empirisch fundierte Dimension aufweist.
Die Fortführung des Teilprojekts über das Jahr 2013 hinaus ist derzeit nicht vorgesehen.
Stellung des Teilprojekts innerhalb des Sonderforschungsbereichs
Während das Teilprojekt A3 in der ersten Förderphase des SFB im Projektbereich A „Theorie“ angesiedelt war, ist die Fortsetzung des Teilprojekts in der zweiten Förderphase im neu benannten Projektbereich B „Governance-Institutionen“ geplant. Der Projektbereich wird sich in der zweiten Förderphase schwerpunktmäßig mit der Problematik des „legitimen Regierens“ beschäftigen und dabei im Lichte der sechs Leitziele des SFB v. a. mit den Kriterien und Voraussetzungen legitimer Governance-Institutionen in Räumen begrenzter Staatlichkeit sowie mit den Veränderungen der Governance-Institutionen und ihrer Legitimität im Laufe der Zeit (à SFB-Ziel 3: Effektivität und Legitimität von Governance). Werden (Rechts-) Normen und ihre funktionalen Äquivalente sowohl als Teil von Regelungsstrukturen als auch als Produkt von Governance-Prozessen verstanden, dann stellen sie geradezu einen Prototypen der in diesem Projektbereich zu untersuchenden Governance-Institutionen dar (à SFB-Ziel 2: Staatlichkeit als Kontextbedingung von Governance; SFB-Ziel 4: Aneignungs- und Abwehrprozesse in Räumen begrenzter Staatlichkeit).
Die Erkenntnisse des Teilprojekts zu den Fragen der Entstehung solcher Normen, ihrer kulturellen Kontextualität und der Bedeutung des Staates hinsichtlich ihrer Legitimität, ihrer Effektivität und ihrer Sicherheit können somit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Arbeit des Projektbereichs leisten, sondern werden – wie schon in der ersten Förderphase – die Theoriebildung im gesamten SFB und die konzeptionelle Arbeit in den anderen Teilprojekten bereichern. Das gilt vor allem – aber nicht nur – für die bereits genannten Teilprojekte des Projektbereichs C „Sicherheit“, mit denen eine enge Zusammenarbeit angestrebt wird. Das Teilprojekt wird mit seiner Fragestellung einen wesentlichen Beitrag zu allen drei Querschnittsarbeitsgruppen („Governance“, „Räume begrenzter Staatlichkeit“ und „Normative Fragen“) leisten.